ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
Leben noch für ihn bereithielt.
Linus hörte eine Stimme. „Sind wir aufgewacht?“ Das rötliche Gesicht einer rundlichen Krankenschwester kam in sein Blickfeld. „Feinfeinfein“, zwitscherte sie in hellem Ton. Sie kam näher und beobachtete ihn wie einen seltenen Käfer. Er wollte nicken, lächeln. Aber, klar, das ging ja noch nicht. Doch er hatte seine Augen offen und insofern war das eine furchtbar dämliche Frage.
„Wissen wir, wie wir heißen?“
„Nebukadnezar“, sagte Linus. Das hatte sein Großvater immer gesagt, wenn er sich vorstellen sollte, aber annahm, dass man ihn doch eigentlich kennen müsste. Schließlich war er ein Professor.
„Wissen wir denn, warum wir hier sind?“, fragte die Schwester unbeirrbar freundlich.
„Ich weiß es. Wenn du’s nicht weißt, schau in die Akte!“
Linus versuchte, großzügig zu bleiben in seiner Beurteilung der Schwester. Dann aber sah er plötzlich die Veränderung in ihrem Gesicht, wie sich ihre Augenbrauen besorgt zusammenzogen. Dann war sie aus seinem Blickfeld wieder verschwunden.
„Was ist los?“, rief Linus. Ihm fiel auf, wie still es war. „Wo sind Sie?“, rief er.
Wieder war alles still. Irritiert bemerkte Linus, dass er seine eigene Stimme nicht hören konnte. Aber er hatte doch eben die Stimme der Schwester gehört. Wie eine schreckliche Flut breitete sich die logische Erklärung dafür in seinem Hirn aus und verdrängte alles andere.
Stumm! Er war stumm. Er konnte nicht mehr sprechen.
Er probierte es wieder. Kein Ton kam aus seinem Mund. Das war nicht gut. Das war verdammt beschissen! Der letzte Blick der Schwester hatte Linus komplett verunsichert. Konnte man nicht sprechen, wenn man aus der Narkose aufwachte?
Linus wollte sich ablenken, horchte wieder nach der Musik. Sie war verstummt. Die Schwester hatte den Lautsprecher abgestellt. Linus brauchte eine andere Ablenkung, um sich keine Sorgen zu machen. Aber wie? Irgendetwas denken. Egal. Irgendetwas. Schnell! Sein Blick blieb an der weißen Decke haften. Er schloss die Augen. Aber da tauchte das sorgenvolle Gesicht der drallen Schwester auf. Also öffnete Linus wieder die Augen. Plötzlich strahlte es ihm hell entgegen.
„Hallo Linus. Mein Name ist Anke Döring. Ich habe dich operiert“, sagte die Ärztin und leuchtete ihm mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen. Die Schwester wippte immer wieder auf ihre Zehen, um über die Schulter der Ärztin sehen zu können, was sich da tat.
„Kannst du mich hören?“, fragte die Ärztin.
Ja. Klar, dachte Linus.
„Kannst du mich hören?“
Alte, du nervst, hätte Linus so gerne gesagt. Sie hätte doch wissen müssen, dass die Narkose noch andauerte.
„Verdammt“, sagte schließlich die Ärztin. Es klang durch den Raum, und ihr war selber sofort klar, dass es weniger nach einem Fluch als nach einem vernichtenden Urteil geklungen hatte. Linus war es, als hätte ihn zum zweiten Mal ein Geschoss in die Eingeweide getroffen. Doch diesmal mit noch größerer Wucht.
[3115]
Simon starrte in die Dunkelheit. Das Wasser. Die Luft. Die Nacht. Wie lange Peitschen krümmten sich die Wellen in die Höhe, bevor sie in feine Tropfen zersprangen, in der Tiefe versanken und schäumend wieder an die kalte Luft zurückkehrten, um ihr scheinbar sinnloses Werden und Vergehen von Neuem zu beginnen. Er brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, dass dort Metallpfeiler auftauchten, die aus dem schwarzen Meer in den Himmel ragten und an denen sich die Wellen brachen. Die Pfeiler führten hinauf zu einem riesigen Plateau, auf dem in der Ferne ein paar Warnlichter blinkten. Für die Dauer einer Sekunde streifte der Suchscheinwerfer des Schlauchbootes über die gigantischen, senkrecht verlaufenden Röhren. Im Wogen einer Welle erkannte Simon das rostige, mit Seepocken überwucherte metallene Gebein der Plattform, von dem die Gischt in das kleine Boot brach und es herumschleuderte wie ein vergessenes Kinderspielzeug.
Mit beiden Händen klammerte Simon sich an die Schlaufen des Schlauchbootes, das er mit Edda, Schifter und Gopal teilte. Mit jeder Welle, die das Boot wieder in die Nähe der Plattform schob, konzentrierten sich alle darauf, es endlich an den Anlegehaken vertäuen zu können. Doch gegen die Kräfte der Natur waren all ihre Anstrengungen wirkungslos.
Simon warf einen Blick auf Edda. Genau wie er klammerte sie sich an die Halteschlaufen. Sie war so bleich, dass sie in der Dunkelheit schimmerte wie ein fahles Licht, das kurz davor stand zu
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