ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
ging weiter. Thorben zuckte zusammen. Was war passiert? Und was war mit Edda? Und Simon?
Die Ärztin wartete an der Tür. Sie sah zu, wie der seltsame alte Mann bei seinem Enkel saß und nicht wusste, wie er mit ihm umgehen sollte. Sie kannte diese Situationen und hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Sie erwischte sich dabei, wie sie zur eigenen Ablenkung mehr Interesse an der Kopfdeformation des Mannes hatte als an seiner Erschütterung.
Olsen betrachtete den reglosen Jungen. Die Polizei hatte er vorerst beruhigen können. Die emsige Ärztin hatte die beiden Beamten nach deren Auftauchen an Olsen, seinen „Großvater“, verwiesen.Olsen musste auf die Fragen nach der Schusswunde antworten. Er zog sich mit der Behauptung aus der Affäre, dass Linus ihn angerufen und er ihn dann im Grunewald gefunden hatte. Laut Olsen hatte der Junge da schon nicht mehr auf seine Fragen reagiert. Also hatte er ihn eilig ins Krankenhaus gebracht.
Die Beamten glaubten Olsen, vor allem weil seine Sorge um Linus so echt war. Die Frage nach den Eltern beantwortete Olsen wahrheitsgemäß. Sie galten als vermisst, sagte er und behauptete, er habe sich um Linus gekümmert.
Mit der Ärztin vereinbarten die Polizisten, dass sie das Kommissariat verständigen solle, sobald Linus wieder ansprechbar sei. Sie würden inzwischen Kollegen an den von Olsen beschriebenen Fundort im Grunewald schicken, um Spuren zu sichern. Olsen war klar, dass seine Lüge vom Fundort aufzufliegen drohte, sobald die Experten der forensischen Abteilung der Polizei den Platz in Augenschein nehmen würden. Auch dass die Beamten ein Foto von Linus geschossen hatten, beunruhigte ihn. Wenn sie auf die Idee kamen, das Foto mit den Aufnahmen der Überwachungskameras im Schwimmbad zu vergleichen, an dem Tag, als Clint dort starb, dann würden sie schnell auf Linus kommen. Und auf Olsen. Genauso bedrohlich war die Tatsache, dass die Beamten das Projektil, das man in Linus’ Körper gefunden hatte, als Beweisstück mitgenommen hatten. Das Kaliber bot Rückschlüsse auf die Waffe, mit der auf Linus geschossen worden war. Eine professionelle Söldnerwaffe. Spätestens wenn das der Polizei klar wurde, würden sie in Mannschaftsstärke auftauchen und komplett anders auftreten als die beiden müden Gesellen in Uniform vor einer halben Stunde.
Dennoch war Olsen nicht ohne Hoffnung, dass er mit all dem würde umgehen können. Er wusste, dass sein Hirn an irgendeiner Stelle längst schon an einem Masterplan bastelte, um Linus in Sicherheit zu bringen. Darauf konnte er sich verlassen. Das hatte er in den letzten Wochen über seinen Söldner-Instinkt gelernt.
„Was bedeutet das ... ‚Locked-in‘?“, fragte Olsen, als er sich schließlich an die Ärztin wandte. „Ist das wie Wachkoma?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein. Es bezeichnet den Zustand, in dem ein Mensch zwar bei Bewusstsein, aber körperlich fast komplett gelähmt ist.“
Olsen erkannte, dass die Ärztin mit dieser sachlichen Beschreibung begann, sich auf professionell sicheres Terrain zurückzuziehen.
„Allerdings handelt es sich bei Ihrem Enkel scheinbar um eine besondere Form. Er kann sich zwar nicht bewegen, doch er kann selbstständig atmen und schlucken. Das macht uns Hoffnung.“
„Er kann nicht reden.“
„Ja. Sie sollten auch nicht damit rechnen, dass sich das alles schnell bessert. Wir werden zuerst einmal versuchen, mit ihm über den Lidschlag zu kommunizieren.“
Sie versuchte, ihre Stimme wärmer klingen zu lassen. „Es wird eine schwere Zeit für Sie und Ihre Familie. Ich kann Ihnen eine Adresse eines hervorragenden Betreuers geben. Oder die Hilfe des psychologischen Dienstes ... oder der Kirche.“
Olsen reagierte nicht.
„Würde natürlich helfen, wenn Sie privat versichert wären“, sagte die Ärztin, auch weil sie die entstandene Stille nur schwer ertrug. Doch der fassungslose Blick von Olsen ließ sie sofort wieder verstummen. Schließlich wollte sie doch noch tröstend klingen, als sie von der Möglichkeit sprach, ein „Brain-Computer-Interface“ zur Kommunikation einzusetzen.
„Raus!“, fuhr Olsen sie plötzlich an. „Gehen Sie raus!“ Und sein nachfolgendes „Bitte“ klang wie ein Befehl. „Sie können doch nicht so reden, wenn er bei Bewusstsein ist! Sie können ihn doch nicht mit solcher Hoffnungslosigkeit konfrontieren.“
„Falsche Hoffnung ist viel schlimmer“, rechtfertigte sich die Ärztin. „Glauben Sie mir.“
„Gehen Sie!“
Olsen war laut
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