Abbild des Todes
verheiratet?” Daran hatte sie nicht gedacht. Ein verheirateter Mann. Das eröffnete vollkommen neue Perspektiven. Und bot ein mögliches Motiv – Erpressung.
Annie nickte. “Lola hat es zwar nie direkt zugegeben, aber alle Zeichen waren vorhanden – ihre Stimmungswechsel, die gelegentlichen Tränen auf der Damentoilette, wenn sie mit ihm telefoniert hatte, dieser Schutzwall, den sie um den Mann errichtet hatte, eine Mauer, die keiner, nicht einmal ich, durchbrechen konnte.”
Ein unglaublicher Gedanke nahm in Zoes Kopf Form an. E.J. war verheiratet. “Also weißt du gar nichts über ihn? Sein Alter, was er arbeitet, wie sie sich kennengelernt haben?”
“Nein, aber eines kann ich dir sagen.” Sie zog den Wagen weiter. “Er machte sie unglücklich. Binnen weniger Wochen wurde aus der fröhlichen, freundlichen Lola, die ich kannte, eine missmutige, mürrische Zicke. Bis sie auf die Bühne und hinter das Mikrofon trat.”
Annies Blick wanderte hinauf zu der schmalen Bühne. “Da oben war sie fähig, ihre Sorgen hinter sich zu lassen und die Sängerin zu werden, die jeder erwartete. In dieser Hinsicht war sie einfach wundervoll.”
“Das war bestimmt nicht leicht – so viele Gedanken im Kopf zu haben und trotzdem jeden Abend das Publikum zu unterhalten.”
“Ich könnte das nicht. Aber Lola schien es aus dem Ärmel zu schütteln, und niemand bemerkte, wie es ihr wirklich ging, nicht einmal Rick.”
Sie muss sich jemandem anvertraut haben, dachte Zoe. Niemand durchlebt eine schwierige Beziehung, ohne das Bedürfnis zu haben, mit einem Freund oder einer Freundin darüber zu sprechen. Wenn es nicht Annie war, wer dann?
“Was kannst du mir über die Beziehung zwischen Lola und ihrer Tante sagen?”, fragte sie betont beiläufig. Gleichzeitig sah sie sich verstohlen um, um sicherzugehen, dass Rick nicht in der Nähe war.
“Sie haben einander abgöttisch geliebt. Lola ist bei Frieda aufgewachsen.”
“Ja, ich weiß, Rick hat es mir erzählt.”
“Lola war am Boden zerstört, als bei Frieda Demenz diagnostiziert wurde. Frieda bestand darauf, sofort in ein Pflegeheim zu ziehen, bevor sie für ihre Nichte zu einer Last werden würde, auch wenn Lola damals schon die meiste Zeit im
Belvedere
gewohnt hat.”
“Das
Belvedere
in der Eighty-Seventh Street?”
Annie nickte und beugte sich vor, um die Schleife an einer der Vasen gerade zu ziehen. “Frieda hat das Apartment auf Lolas Namen überschrieben und ihr alle Vollmachten gegeben. Dann haben sie gemeinsam ein nettes kleines Heim in der Nähe ausgesucht. Lola hatte keinen Führerschein, also ist sie entweder mit dem Bus oder mit mir nach Sagemore gefahren. Manchmal hat Rick sie gebracht.”
“Wann hat Frieda Lola nicht mehr erkannt?”
“Vor sechs bis acht Monaten ungefähr. Anfangs waren es nur kurze Phasen, in denen sie sich nicht erinnern konnte, aber die Zeiträume wurden immer länger. Inzwischen ist es umgekehrt, sie hat nur noch wenige lichte Momente. Wenn Lola von einem der seltenen Besuche zurückkam, bei denen Frieda ihre Nichte wiedererkannt hatte, hatte man den Eindruck, Lola hätte im Lotto gewonnen.”
“Hätte sie sich ihr anvertraut?”
“Weswegen?”
“Wegen ihres Freundes.”
Annie dachte einen Moment lang nach. “Vielleicht. Aber nicht, weil sie sich einen Rat von Frieda erhofft hätte, sondern weil sie ihr Herz ausschütten konnte, ohne das Gefühl zu haben, den Mann zu verraten.”
Zoe blickte zur Bühne und stellte sich Lola darauf vor, eine Hand am Mikrofon. “Rick hat mir ein Video von Lola gebracht, und darauf fiel mir ihr Armband mit dem kleinen Amor-Anhänger auf.”
Annie nickte. “Das hat sie von ihrem Freund bekommen. Ich weiß es, weil sie mir davon erzählt hat.”
“Wann war das?”
“Vor vier Monaten. Er hat es ihr zu ihrem Geburtstag am 21. August geschenkt, und sie hat es danach nie wieder abgelegt.”
“Dann war die Beziehung der beiden zu dem Zeitpunkt noch in Ordnung?”
“Ich nehme es an. Die Krise setzte erst ein paar Monate später ein. Ab dem Zeitpunkt wirkte Lola häufig depressiv.”
Ein Mann in einem blauen Overall stand auf der Bühne und überprüfte die Lichtanlage. “Habt ihr eine neue Sängerin?”, fragte Zoe.
In Annies Stimme lag Sarkasmus. “Wenn man Jenny Figuerosa so bezeichnen will.”
“Habe ich da meinen Namen gehört?”, ertönte in dem Moment eine weibliche Stimme.
Zoe drehte sich um und sah eine attraktive Brünette, die eine große Handtasche über der
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