Abby Cooper 02 - Moerderische Visionen
durfte mich nicht gehen lassen ... nicht hier ... nicht öffentlich ... noch nicht.
Irgendwann hob ich die Hand an die Tüte und schob sie sanft beiseite. »Ich danke Ihnen«, sagte ich.
»Gern geschehen, junge Dame. Soll ich Sie ins Krankenhaus bringen?«, fragte der freundliche Arzt. Er war ein älterer Herr mit silbergrauem Haar und einem weißen Bart, und obwohl er mich beruhigend anlächelte, stand Besorgnis in seinen Augen.
»Nein, wirklich, mir geht es wieder gut«, versicherte ich ihm. »Hab mich in letzter Zeit etwas übernommen. Ich möchte jetzt einfach in mein Zimmer und mich hinlegen«, sagte ich.
Links von mir sagte ein stämmiger Mann mit einem schlechten Haarschnitt und einem Namensschild, das ihn als Jim Murray, den Manager, auswies: »Selbstverständlich, Ma’am. Wir bringen Sie sofort nach oben. Und machen Sie sich keine Gedanken um Ihr Essen - das geht heute aufs Haus.«
»Ich danke Ihnen. Das ist sehr freundlich ...« Und schon traten mir die Tränen in die Augen. Sosehr ich die Trauer auch zurückzudrängen versuchte, sie war stärker als ich. Eilig erhob ich mich und ging, von dem freundlichen Arzt gestützt, mit wackligen Knien zum Aufzug. Dort versicherte ich dem Mann, ich könne ganz bestimmt allein zu meinem Zimmer gehen, und nach kurzem Zögern bemerkte er meinen flehenden Blick, nickte und ließ mich gehen.
Im nächsten Augenblick öffneten sich die Aufzugtüren und ich wankte hinein. Ich schlang die Arme fest um mich, als würde ich sonst auseinanderfallen. An der Zimmertür fiel es mir schwer, die Schlüsselkarte einzuführen, weil ich vor lauter Tränen kaum etwas sah. Endlich gelang es mir. Ich schlug die Tür hinter mir zu, glitt zu Boden und heulte mir die Seele aus dem Leib.
17
Stunden später lag ich noch immer auf dem Boden. Obwohl ich total erschöpft war, konnte ich nicht schlafen. Ich lag mit dem Gesicht gegen den Teppich gedrückt da und versuchte schon eine ganze Weile, mich an Dutchs Gesicht zu erinnern, aber es gelang mir nicht. Mir fielen nur all die Kleinigkeiten ein: die Farbe seiner Augen, das Grübchen am Kinn, der Haaransatz an der Stirn, die Linie der Geheimratsecken. Doch wenn ich versuchte, im Geiste ein Stück zurückzutreten und ihn ganz zu sehen, verschwamm sein Bild bis zur Unkenntlichkeit.
Als mir klar wurde, dass ich kein einziges Foto von ihm besaß, das die Erinnerung zurückholen könnte, traf mich die Trauer erneut mit voller schmerzhafter Wucht. Es kam mir wie ein Betrug ihm gegenüber vor, dass ich kein Foto von dem Mann, den ich liebte, bei mir trug.
Hinzu kam, dass ich ihm nie meine wahren Gefühle offenbart hatte, und ich konnte nicht einmal sagen, warum. War ich so sehr daran gewöhnt, vorsichtig zu sein und meine Coolness zu bewahren? War ich so herzlos? So feige?
Ich seufzte in den Teppich, während mir diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, und wollte, dass sie aufhörten. Inzwischen war es im Zimmer vollständig dunkel geworden. Langsam erhob ich mich auf die Knie, dann stand ich unter dem Protest meiner verkrampften Muskeln auf und ging zum Bett. Ich setzte mich darauf und machte das Licht an. Blinzelnd schirmte ich mir mit der Hand die Augen ab. Nachdem ich mich wieder ans Licht gewöhnt hatte, schaute ich dumpf im Raum umher. In diesem Moment summte meine Intuition. Wütend neigte ich den Kopf zur Seite und schrie meine Crew innerlich an. Wie konnten sie es wagen, mir so etwas anzutun! Wie konnten sie es zulassen, dass jemand starb, den ich liebte? Was zum Teufel nutzte es, ein Medium zu sein, wenn ich nicht verhindern konnte, dass jemand, den ich liebte, getötet wurde?
Ich sagte meinen Geistern, dass ich sie hasste, dass ich nie wieder von ihnen hören wollte, dass Schluss sei mit den Sitzungen, dass ...
Sieh in deine Handtasche ...
»Leckt mich!«, rief ich laut.
Sieh in deine Handtasche ...
»Verpisst euch!«, schrie ich praktisch und hielt mir die Hände vor die Ohren, als wäre jemand im Raum, der auf mich einredete.
Sieh in deine Handtasche ...
Der Gedanke wollte nicht Weggehen. Er wirbelte ohne Unterlass durch meinen Kopf und trotzte allen Bemühungen, ihn zu ignorieren. Schließlich stapfte ich wütend zu meiner Handtasche und nahm sie mit hinüber zum Bett. Ich blickte hinein: nichts Ungewöhnliche s.
Na also!, sagte ich. Da ist nichts!
Sieh in deine Handtasche ...
Ich fletschte die Zähne und knurrte, drehte die Handtasche um und ließ den gesamten Inhalt aufs Bett fallen. Dumpf starrte ich die Sachen an
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