Abby Cooper 02 - Moerderische Visionen
haben, kann sich aber nicht erinnern, was er geguckt hat.«
»Hm«, machte ich und nickte langsam.
Milo ordnete ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch und erzählte weiter. »Ach, und wir haben in seinem Keller allerhand Skiausrüstung gefunden.«
»Die Maske auch?«
»Nein, noch nicht, wir suchen noch.«
Ich meldete mich bei meiner Crew, drehte und wendete den Namen des Verdächtigen im Kopf hin und her, um zu sehen, ob sich ein Eindruck einstellte, aber es kam nichts. Also fragte ich: »Warum sollte ich herkommen?«
»Ich möchte, dass du mal einen Blick auf ihn wirfst und guckst, ob du ihm was anmerkst. Vielleicht kommt dir ja eine Ahnung, wo wir den Montierhebel finden oder wo er die Maske gelassen hat.«
»Habt ihr denn gar nichts gegen ihn in der Hand, Milo? Ich meine, ich helfe nur zu gerne, aber gibt es keine Fasern oder Körperflüssigkeiten, die ihr auswerten könnt, sodass ich mit dem Kerl nicht in Kontakt treten muss?«
Milo neigte ein bisschen den Kopf zur Seite und fragte sich vermutlich, warum ich so zurückhaltend war. »Das ist das Problem - der Täter hat Handschuhe und ein Kondom benutzt. Wir haben bisher nur ein paar Schamhaare, aber das dauert Wochen, bis das Labor die DNA hat.«
Ich seufzte schwer. Ich wollte den Kerl nicht sehen und versuchte, mich zu drücken. Gewalt gegen Frauen, Kinder und Tiere ist mir besonders zuwider. Ich verabscheue Gewalt in jeder Form und die Methode dieses Täters fand ich unglaublich abstoßend. Ich hatte die Befürchtung, mich hinterher schmutzig zu fühlen, wenn ich mit der Energie dieses Kerls in Kontakt käme - in etwa so, als wäre ich durch ein völlig verqualmtes Zimmer gegangen und würde noch stinken, nachdem ich das Haus längst verlassen hätte.
Dann führte ich mir jedoch vor Augen, dass ich Milo meine Hilfe zugesagt hatte. »Gut«, sagte ich, stand auf und straffte die Schultern.
»Großartig.« Milo forderte mich mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. »Er sitzt gleich am Ende des Flurs in einem der Befragungsräume.«
Milo ging mit mir in einen Beobachtungsraum daneben. Er war kaum beleuchtet und man blickte durch eine breite Scheibe nach nebenan. Dort saß ein junger Mann mit Handschellen an den Tisch gefesselt.
Er war allein und starrte vor sich auf die Tischplatte. Er rührte sich kaum, schien mit den Gedanken weit weg zu sein und wirkte ängstlich. Er war Mitte zwanzig, hatte wellige braune Haare, eine markante Nase, schmale Lippen und ein fliehendes Kinn, außerdem einen deutlichen Überbiss, sodass die Lippen nie ganz geschlossen waren. Er sah aus, als hätten sie ihn gerade aus dem Bett geholt, denn seine Haare waren zerzaust und er trug ein dunkelblaues T-Shirt der Detroit Tigers und eine abgewetzte Jeans. Er schien sich ein paar Tage nicht rasiert zu haben, atmete schwer, war blass und sein Puls ging wahrscheinlich ziemlich schnell. Er sah mir nicht wie ein Vergewaltiger aus, strahlte nichts Boshaftes aus, hatte keinen Hass in den Augen, keine Verachtung für die Allgemeinheit. Stattdessen wirkte er erschrocken und wehleidig und ich fragte mich, ob Milo den Richtigen festgenommen hatte.
Milo sah mich erwartungsvoll an. Ich nickte. Dann schloss ich die Augen und bereitete mich vor.
Einer der größten Irrtümer über Hellseher ist die Annahme, dass Nähe Genauigkeit hervorbringt. Mit anderen Worten: Die Leute glauben, ein Hellseher müsste sich im selben Raum mit jemandem befinden, um etwas über ihn erfahren zu können. In Wirklichkeit kann sich der Betreffende auch in einem Raumschiff aufhalten und ich hätte einen ebenso guten Einblick in ihn.
Ich habe Klienten in den ganzen Vereinigten Staaten und zwei in London. Wenn ich eine Sitzung mit ihnen abhalte, befinden sie sich nie bei mir in der Praxis, sondern wir kommunizieren per Telefon. Raum und Zeit sind für uns selten eine Behinderung. Es kommt allein auf die Verbindung an. Ich hätte mir den Verdächtigen also auch von Milos Schreibtisch aus ansehen können, aber mir war klar, warum Milo dachte, ich müsste Jeffrey Zimmer in Blickweite haben.
Als ich vor dem Fenster zum Vernehmungsraum stand, schob ich alle Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf den jungen Mann, sammelte meine Kräfte, dann streckte ich meine intuitiven Fühler nach ihm aus. Ich spürte eine prompte Verbindung und begann mit meiner Einschätzung. Es dauerte keine Minute, dann zog ich mich zurück und machte die Augen auf.
Milo stand mit Notizblock und gezücktem Stift neben mir.
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