Abby Cooper 02 - Moerderische Visionen
»Und?«, fragte er.
»Er ist der Falsche«, sagte ich rundheraus.
»Was heißt das?«, fragte Milo völlig verblüfft.
»Der hat es nicht getan«, sagte ich auf Jeffrey zeigend.
»Woher weißt du das?«
»Na, zum einen ist er ungefähr so mutig wie ein Einsiedlerkrebs. Der erschrickt doch vor seinem eigenen Schatten. Der würde so wenig eine Frau überfallen, wie er von einem Hochhaus springen würde. Seine Ausstrahlung lügt nicht, Milo. Er hat furchtbare Angst, für etwas verurteilt zu werden, was er nicht getan hat. Ich habe seine Energie zweimal gescannt - glaub mir, wenn er ein Gewalttäter wäre, hätte ich das mitgekriegt.«
Milo sah mich an, während er seine Erfahrungen mit mir gegen die Indizienlage in Zimmers Haus abwog.
Ich wandte mich wieder Jeffrey zu und ließ meinen Blick ins Leere gleiten. Innerhalb von Sekunden sah ich seine Aura. Sie war strahlend weiß geworden und ein weiß leuchtender Ausläufer reichte senkrecht bis an die Decke. Ich verstand: Der junge Mann betete. Dem Anschein nach betete er wie noch nie in seinem Leben.
Ich blinzelte und schüttelte leicht den Kopf, dann wandte ich mich wieder Milo zu. »Ich sag dir, das ist er nicht. Der ist nur ein bisschen sonderbar, ein Nachbar, der von Cathy besessen ist und sie deswegen fotografiert. Er hat nicht eine böse Faser im Leib und er fleht zu Gott und sämtlichen Heiligen, die ihm einfallen, ihn aus der Sache rauszuholen.«
»Abby, seine Festplatte war voller Fotos von ihr«, beharrte Milo.
»Was das Einzige ist, wodurch ihr ihn mit Cathy in Verbindung bringen könnt«, stellte ich heraus. »Wenn er sie vergewaltigt hat, weil er von ihr besessen ist, warum sollte er dann die anderen beiden Frauen vorher vergewaltigt haben?«
»Aus Gewohnheit«, meinte Milo zu schnell. Offenbar hatte er sich diese Frage auch schon gestellt.
»Meinetwegen«, sagte ich. »Aber warum sollte er Cathy geschlagen haben?«
»Weil sie ihn missachtet hat. Sie hat ihm eine Abfuhr erteilt und er wollte sich dafür rächen.«
»Und warum geht er dazu zum Supermarkt? Warum vergewaltigt er sie nicht in ihrem Haus? Ich meine, er hätte abwarten können, bis ihr Freund zur Arbeit gegangen ist, um sie dann in aller Ruhe zu überfallen. Bei einem Supermarkt geht er ein viel größeres Risiko ein. Er kann von einem Kunden oder einem Angestellten gesehen werden. Das Opfer schreit vielleicht noch, bevor er es bewusstlos schlagen kann. Außerdem ist es kalt. Mal platt gesagt: Wer holt schon bei drei Grad plus den Schniedel raus, wenn er es warm und gemütlich haben kann? Wäre es für ihn nicht auch praktischer, es da zu machen, wo er die Abläufe genau kennt, wo er weiß, wer wann kommt und geht?«
Milo fluchte leise unter dem Ansturm meiner Fragen, dann schüttelte er den Kopf und behauptete trotzig: »Abby, das ist der Kerl.«
Ich warf die Hände hoch und verdrehte die Augen. »Na schön, Milo, denk, was du willst. Aber während ihr euch den Fall zurechtbiegt, läuft da draußen einer rum, der schon das nächste Opfer aufs Korn nimmt, und ihr habt nur noch fünf Tage Zeit, bis er wieder zuschlägt.«
Mir kroch ein kaltes Kribbeln den Rücken hinauf, sodass ich mich unwillkürlich schüttelte. Milos Gesicht hatte sich verfinstert. Ich sah ihm an, dass er kurz davorstand, patzig zu werden. In sehr beherrschtem Ton sagte er: »Gut, danke für deine Hilfe. Ich werde darüber nachdenken. Komm, ich begleite dich nach draußen.«
Ich hätte ihn am liebsten angeschrien. Ich kann es absolut nicht vertragen, wenn man mich auf die Art abwimmelt. Dasselbe war beim vorigen Mal passiert, als ich bei einer Mordermittlung gebeten worden war zu helfen, und allmählich ging mir dieses Verhaltensmuster auf die Nerven.
Wir gingen schweigend den Flur entlang und durch die Ermittlungsabteilung im zweiten Stock, dann blieben wir an der großen Flügeltür stehen. Ich dachte an meine Begegnung mit dem Killer am Abend zuvor und entschied mich, im Interesse meiner eigenen Informationssuche, nett und freundlich zu bleiben.
»Tut mir leid, dass ich nicht helfen konnte«, sagte ich.
Milo sah mich an und erwiderte schwach grinsend: »Schon gut. Ich weiß, du sagst mir ehrlich, was du denkst, und ich bin dir dafür dankbar.«
Ich nickte und erzählte dann scheinbar aus heiterem Himmel: »Ach ja, ich habe gestern Abend in der Innenstadt bei dieser Hochzeitsfeier gearbeitet. Es war ziemlich eindrucksvoll.«
Mein plötzlicher Themenwechsel erregte Milos Neugier. Er zog eine Braue hoch.
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