Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
über dem Buschland der Kolonie aufstieg.
Es wurde schnell heiß und Melvins Leiden begann. Da sie bis Windsor immer noch damit rechnen mussten, auf eine Reiterpatrouille zu stoßen, durfte er seinen engen Verschlag nicht verlassen. Nur als sie am späten Vormittag eine Rast einlegten, um den Ochsen eine wohl verdiente Atempause zu gönnen, durfte er aus seinem Versteck. Er war bis auf die Haut durchgeschwitzt und sank erschöpft in den Schatten eines Baumes.
Dort blieb er liegen, bis der Fassbinder wieder zum Aufbruch drängte.
Der Tag wurde ihnen allen lang. Die Sonne stach ihnen in den Augen, und der trockene Sand, den die Ochsen aufwirbelten, drang ihnen in Ohren, Nase und Mund. Sarah, die diese Art Strapazen nicht kannte, wurde unleidlich und jammerte, dass ihr alle Knochen wehtäten und sie vor Hitze bald umkomme. Abby versuchte ihr so gut es ging zu erklären, dass alles Jammern und Weinen sie nicht eine Minute schneller ans Ziel brachte, und schließlich fügte sie sich mit stumpfem Blick in das Unvermeidliche.
Die Stunden krochen dahin und der Gang der Ochsen wurde noch schwerfälliger. Vor ihnen dehnte sich die pulvertrockene verbrannte Weite des australischen Buschlandes, das bis auf die Spurrillen des Weges unberührt schien.
Endlich kippte der Feuerball gen Westen, erst ganz langsam, dass das menschliche Auge kaum ein Absinken beobachten konnte, dann aber immer schneller, als hätte die Kugel auf abschüssiger Bahn Fahrt aufgenommen und es plötzlich sehr eilig, hinter dem Horizont zu verschwinden. Als die letzten Sonnenstrahlen den Himmel verzauberten, lagen Yulara und der Hawkesbury River endlich vor ihnen.
»Wir haben es geschafft!«, stieß John Simon hervor und schüttelte den Kopf, als könnte er es noch nicht so recht glauben.
»Ich bin stolz auf dich«, flüsterte Rachel ihm zu und drückte seine Hand.
Melvin stieg mehr tot als lebendig aus der Kiste. Er roch durchdringend nach Schweiß und Urin und war einem Hitzschlag nahe, obwohl sie ihn während der scheinbar endlosen Fahrt immer wieder mit Wasser versorgt hatten. Doch er lebte und war in Sicherheit.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Der Fassbinder und seine Frau blieben nur einen Tag auf Yulara, um sich von der strapaziösen Reise zu erholen und den Ochsen Gelegenheit zu geben, wieder zu Kräften zu kommen. Jonathan Chandler dankte ihnen nicht nur überschwänglich mit Worten für ihre mutige, gefahrvolle Tat, sondern überhäufte sie auch mit Geschenken, zu denen unter anderem zwei Schafe zählten. Und er bestand darauf, John Simon die Fässer, die er geladen hatte, zu einem mehr als marktüblichen Preis abzukaufen, war das doch seiner Meinung nach das Mindeste, was er für sie tun konnte. Er hätte sie auch gern länger auf der Farm zu Gast gehabt. Doch er pflichtete dem Fassbinder bei, als dieser zu bedenken gab, dass es sicherer war, wenn er und seine Frau so schnell wie möglich einige Meilen zwischen sich und Yulara brachten. Denn es war nicht auszuschließen, dass man eine Patrouille zum Hawkesbury schicken würde, wenn die Suche nach Melvin Chandler in Sydney erfolglos blieb.
Am Morgen, als John und Rachel sich verabschiedet und den Rückweg angetreten hatten, bat Jonathan Chandler Abby zu sich ins Haus. Auch Melvin und Andrew waren bei diesem Gespräch zugegen.
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir für dein beherztes und umsichtiges Vorgehen danken soll, Abby«, begann der Siedler, der in den letzten Jahren vollends ergraut war und in Momenten, wo er sich unbeobachtet wähnte, Anzeichen von Müdigkeit erkennen ließ. Die harten Jahre des Neubeginns in der Kolonie waren nicht so spurlos an ihm vorübergegangen wie an seinen Söhnen, die voller Unternehmungsgeist und Energie steckten.
»Sie haben mir schon mehr als genug gedankt, Sir«, antwortete Abby der Wahrheit gemäß. »Und ich habe nicht mehr getan, als jeder andere gute Christenmensch an meiner Stelle auch getan hätte.«
»Du bist immer zu bescheiden«, meinte Melvin mit sanftem Tadel.
Sein Vater nickte. »Und was die guten Christenmenschen angeht, so scheinen sie mir heutzutage höllisch dünn gesät zu sein – vor allem in Sydney.«
»Ich bin keine Gefahr eingegangen, sondern Rachel und ihr Mann. Was hatte ich schon zu verlieren?« Am liebsten hätte sie gesagt, dass ihr in einer Hinsicht die ganze Sache recht gelegen gekommen war. Denn so konnte sie endlich wieder auf Yulara und in der Nähe von Andrew sein, an den sie in den letzten Wochen mehr denn
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