Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
konnte ihr gar nicht schnell genug gehen, zu erfahren, wie es ihrer Freundin in der Zwischenzeit ergangen war. Aber andererseits hätte sie sich die Lektüre auch gern für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben und das Wissen genossen, noch eine kostbare Überraschung zu besitzen, nämlich das Geschenk ihres ersten Briefes.
Es siegten Ungeduld und Neugierde.
Einen richtigen Brief konnte man Rachels Schreiben eigentlich kaum nennen. Es war nur ein großes Blatt Papier, das zur Hälfte längere Zeit im Sonnenlicht gelegen haben musste, weil es stellenweise schon sehr vergilbt war. Es wies auch Flecken und Risse an den Rändern auf. Natürlich verschloss auch kein Siegellack den Brief, um ihn vor der Neugier ungebetener Leser zu bewahren. Rachel hatte das Blatt nur viermal gefaltet und ein daumenkleines, eingeschnittenes Stück Holz als Klammer benutzt. Auf der Vorderseite stand in ihrer ungelenken Handschrift: Abzugeben an Abby Lynn, zur Zeit in der Korbbinderei der Factory zu Parramatta.
Abby lächelte, zog die hölzerne Klammer ab, entfaltete den Brief und las, was Rachel ihr geschrieben hatte: Liebe Abby,
eine ruhige Stunde, und ich schreibe dir! Das waren meine Worte, nicht wahr? Ich halte mein Wort. Doch es hat etwas gedauert. Bisher habe ich nämlich noch keine richtig ruhige Stunde gehabt, weil ich doch John zur Hand gehe, und der große Garten und der Stall sind ja auch noch da.
Wie geht es dir, Abby? Stolziert die alte Mary Hayes noch immer mit finsterem Blick durch die Werkstatt? Warum die nur keinen Mann abgekriegt hat. Vielleicht wollte sie keinen, was meinst du?
John ist ein guter Mann, wie ich es dir gesagt habe. Ich habe alles so angetroffen, wie er es mir beschrieben hat. Der Schuppen mit seiner Fassbinderei ist gleich neben dem Haus, das ganz wunderbar ist. Ein Haus ganz für uns allein. Stell dir vor: Wir haben sogar einen Raum, wo wir nur schlafen. Davon hab ich früher immer geträumt. Und John denkt sogar daran, bald ein Haus aus Ziegelsteinen zu kaufen. Das glaube ich aber erst, wenn ich es sehe. John arbeitet hart, doch zu mir ist er nett.
Wir kommen wirklich gut miteinander aus und ich mag ihn jetzt sogar richtig gern. Er will mehrere Söhne und Töchter, und ich will sie ihm gern schenken, denn das hat er verdient, und das ist das Wenigste, was ich für ihn tun kann.
Gerade zwei Wochen bin ich nun die Frau von John Simon, aber es kommt mir viel länger vor. Ich möchte dir noch so viel schreiben, aber mir tut die Hand weh, wo ich doch noch nie so viel auf einmal geschrieben habe. Hast du was von Megan gehört? Weißt du, dass ich dich ganz schön vermisse? Der Teufel mag wissen, warum.
Es grüßt dich deine Rachel Simon!
Die schiefen Zeilen verschwammen Abby vor den Augen und verstohlen wischte sie sich die Tränen weg. Dass Rachel ihr so einen langen, ausführlichen Bericht schreiben würde, hätte sie sich nie träumen lassen. Was musste es sie für Mühe gekostet haben!
Abby faltete den Brief schnell wieder zusammen und steckte ihn weg, obwohl sie ihn am liebsten noch drei-, viermal in aller Ruhe gelesen hätte. Doch das musste bis Sonnenuntergang warten, wenn ihre Arbeit in der Korbbinderei beendet war.
Als die Sonne endlich sank, setzte sie sich in eine stille Ecke und las den Brief wieder und wieder. Sie gönnte Rachel ihr Glück und wünschte ihr und ihrem Mann viele gesunde Kinder. Doch die Tatsache, dass ihre Freundin es mit der Wahl ihres Mannes so gut angetroffen hatte, verstärkte ihr Gefühl der Verlassenheit noch, wusste sie doch, dass sich ihre Wege jetzt noch mehr trennen würden und die Erinnerung an vergangene gemeinsame Zeiten bald das Einzige sein würde, was sie noch miteinander verband.
Die nächsten Tage waren besonders schwer für Abby. Die Hitze drückte auf die Gemüter, und Mary Hayes war gereizt, wie schon lange nicht mehr. Noch nicht einmal Abby konnte es ihr recht machen. Ständig hatte sie etwas auszusetzen, und sie bemängelte angebliche Schlamperei, obwohl Abby so sorgfältig wie immer gearbeitet hatte. Einmal brachte Mary Hayes sie derart in Rage, dass sie sie fast angeschrien und ihr den Korb an den Kopf geworfen hätte.
Doch sie beherrschte sich, weil ihr gerade noch in den Sinn gekommen war, wie es der Frau aus dem Küchenhaus ergangen war, die sich zu einer derart unbeherrschten Reaktion hatte hinreißen lassen: Man hatte sie öffentlich ausgepeitscht. Zwei Dutzend Schläge mit der Neunschwänzigen. Die Haut war schon nach den ersten Hieben
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