Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
hinter die Rolle des Mannes zurück, der das Sagen auf Yulara hatte.
Am Tag, als sie nach Sydney aufbrachen, hatte sich Andrew schon früh am Morgen von seinem Bruder und seiner Schwester verabschiedet und war ausgeritten, um ein Känguru zu schießen. Abby bekam ihn nicht mehr zu Gesicht, was sie mit Unverständnis und Trauer erfüllte. Denn wie Sarah und Melvin war er für sie längst mehr als nur der Sohn des Mannes, dem man sie zur Sträflingsarbeit zugeteilt hatte.
Als das Fuhrwerk schon außer Sichtweite von Yulara war, glaubte Abby plötzlich einen einzelnen Reiter auf einer bewaldeten Anhöhe entdeckt zu haben, der zu ihnen blickte.
»Andrew!«, dachte sie freudig und wandte sich Melvin zu, um ihn auf den Reiter aufmerksam zu machen. Doch als sie sich wieder umdrehte, war der Reiter verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Achtzehntes Kapitel
Abby! … Schau doch nur! … Die Bucht! … Man kann von hier aus direkt auf die Bucht sehen!«, rief Sarah begeistert, als sie am Fenster des Wohnzimmers standen. »Sieh mal, da liegen Schiffe vor Anker! … Und man kann über die ganze Stadt blicken! … Ich liebe Sydney!«
»Ja, es ist ein wunderschöner Anblick!«, pflichtete Abby ihr bei, von ihrer Begeisterung und Entdeckungsfreude angesteckt. Das Haus, das Melvin Chandler günstig aus der Konkursmasse eines bankrotten Geschäftsmannes erworben hatte, stand mit mehreren anderen Wohnhäusern auf einem Hügel am Ostufer der Bucht, keine Viertelmeile von der Residenz des Gouverneurs entfernt.
Doch nicht nur die Wohnlage übertraf alles, was Abby vorzufinden erhofft hatte, sondern auch das Haus selbst war eine angenehme Überraschung. Nicht nur, dass es mit englischen Möbeln eingerichtet war und sogar ein richtiges Waschkabinett hatte, nein, sie hatte in diesem Haus sogar ein eigenes Zimmer, ein Zimmer ganz für sich allein! Und wenn es nur eine kleine Kammer mit einer Dachluke war. Seit ihr Vater von jener Schiffsreise nach Indien nicht wieder zurückgekehrt war, hatte sie kein Zimmer mehr ihr Eigen nennen können.
Es gab in Sydney so vieles zu sehen, zu entdecken und zu tun, dass Abby in den ersten Wochen kaum eine ruhige Minute zum Nachdenken fand. Welch eine Freude war es doch, als sie Rachel endlich wieder sah. Nach über zweieinhalb Jahren!
Welch ein himmelweiter Unterschied war es doch, bei einem Becher Kolonie-Tee zu sitzen und stundenlang über alles Mögliche zu reden, statt sich alles sechs, sieben Monate einen Brief zu schreiben, in dem so vieles angesprochen, aber nicht wirklich erzählt werden konnte.
Es wurden von ihr auch keine schweren körperlichen Arbeiten verlangt, wie das auf der Farm der Fall gewesen war. Sie fühlte sich regelrecht in eine paradiesische Welt versetzt, denn Melvin brachte ihr trotz heftigster Proteste immer wieder Stoff mit, damit sie sich neue, hübsche Kleider nähte.
»In einer Stadt wie Sydney kannst du eben nicht mit den Sachen herumlaufen wie draußen bei uns auf dem Feld«, sagte er immer wieder augenzwinkernd, wenn Abby ihm Vorhaltungen machte und ihn bat, ihr nichts mehr zu kaufen. »Außerdem möchte ich, dass Sarah sich deiner Begleitung nicht zu schämen braucht. Und jetzt nimm den Stoff endlich. Zurückbringen werde ich ihn nämlich auf keinen Fall.«
So kam Abby zu mehreren neuen Kleidern und Erfahrungen mit Schneidern und Nähen. Ihre Pflichten hielten sich in mehr als erträglichen Grenzen. Sie war im Haus das Mädchen für alles. Doch da Melvin kaum Besuch nach Hause brachte, wenig Ansprüche an seine Mahlzeiten stellte und ein überwiegend ordentlicher Mensch war, bedeutete es für sie keine Anstrengung, alles zu seiner Zufriedenheit zu richten. Und Zeit mit Sarah zu verbringen, hatte sie nie als Arbeit oder gar als Belastung empfunden.
Sie hätte also rundum glücklich sein und den Herrgott täglich auf Knien danken müssen, dass sie es mit Melvin und Sarah so gut angetroffen hatte. Doch das war nicht der Fall.
Bald schon sehnte sie sich nach Yulara zurück. Erst jetzt kam ihr so richtig zu Bewusstsein, wie sehr sie sich an das Leben unter freiem Himmel und an die Arbeit auf Feld und Acker gewöhnt hatte, an das befriedigende Gefühl am Ende eines langen Tages, ein gutes Stück Arbeit geschafft zu haben.
In Sydney fühlte sie sich überhaupt nicht ausgelastet. Melvin war viel außer Haus. Er unterstützte die Politik von Gouverneur Bligh, der John Macarthur und seinen korrupten Gesinnungsfreunden den Kampf angesagt hatte, jedoch noch
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