Abdruecker (Splattergeschichten)
Verzweiflung. Er ist weniger weit gekommen als ich dachte. Es ist fast ein Kilometer, den ich mich am Ufer entlang zurück zu der Stelle kämpfen muss, die er angepeilt hat. Ich eile, und achte zugleich darauf, dass er mich noch nicht sehen kann. Das Überraschungsmoment suchen, von dem ihm das Herz stehen bleibt, ist mein Gedanke. Später wird der Strand wieder freier und nimmt an Breite zu. Jetzt muss ich mich aus der Deckung wagen, bemühe mich aber weiterhin auf den letzten paar hundert Metern, mich durch geducktes Laufen hinter den Dünen vor den Blicken des Schwimmers zu verbergen. Verborgen im Gebüsch sitze ich dann, versuche selbst zu Atem zu kommen. Ich kann sehen, wie sein Kopf näher kommt, deutlicher wird. Ja, er sucht das Land. Er ist erschöpft, mehr als er es jemals war. Aber es ist auch der Moment, in dem der Mut der Verzweiflung an die Oberfläche kommt. Ebenso wie die Sonne. Sie ist jetzt da, taucht das Meer in ein flutendes Licht, ein Glitzern und Leuchten von Blau und Grün. Die Landschaft schläft, doch auf der Straße hinten hat sich längst ein steter Strom an durchziehenden Autos eingestellt. Kaum eine Minute vergeht, die ohne Motorenlärm ist. Doch die Straße ist an dieser Stelle immerhin zweihundert Meter weit von dieser Stelle entfernt, die ziemlich unzugänglich ist. Ein Ruf wird den Wellenschlag vielleicht übertönen können, und wenn ein Cabrio da draußenvorbei fährt, wird man es vielleicht trotz des Fahrtwindes hören können, wenn hier einer kreischt. Todesgefahr macht so etwas. Wir brüllen oder kreischen auf eine Art und in einer Lautstärke, die wir nicht für möglich hielten. Weil wir uns so stimmlich noch nie geäußert haben. Mir ist diese Bedrohung möglicher Zeugen bewusst, aber auch in mir kursiert jetzt der Rausch der Müdigkeit und Erschöpfung, macht mich taub gegen so Vieles, weckt den Wunsch, Schluss zu machen. Mit dieser Tragödie oder Komödie. Ein unwirkliches Gefühl stellt sich ein. Die Sache hat etwas von einem Theater. Der schweigsame Kampf zwischen den Protagonisten. Der eine schwimmt. Der andere klammert sich an seine Axt. Es ist da ein Schwindel durch das beständige Rauschen und Peitschen in den übermüdeten Ohren. Man hat das Gefühl, die Augen nicht mehr offen halten zu können, und als nun der Kopf des Schwimmers immer näher kommt, er schon bald in den Untiefen sein wird, gleicht er einem silbrigen Fisch, der mit übermenschlicher Geschwindigkeit durch das Wasser herangleitet, getragen vom Gott des Meeres. Mir ist heiß. Ich beginne mich auszuziehen. Der Morgenwind streicht mir über die Haut, es läuft da eine Gänsehaut drüber durch die Wärme. Ich lege meine Kleider in den Sichtschutz eines Busches und bin nun nackt bis auf das Beil in der Hand, als ich langsam den Strand hinunterschreite, auf die Brandung und ihren Schwimmer zu. Von hier aus kann man überraschenderweise so etwas wie einen Ort sehen, fern. Eine sterbende Kleinstadt, mit zu Teil leer stehenden, verfallenden Gebäuden hinter der nächsten Düne. Kein Fenster in Sicht hierher ist geöffnet, überall sind Fensterläden vor. Es mag sich um eine Wildweststadt handeln, gebaut von der Filmindustrie. Oder tatsächlich um eine mexikanische Siedlung, die längst verfallen ist. Man sieht keine Kähne am Strand, und es kann sich auch um keine große Touristenattraktion handeln, wenn man die Ruinen eines Hotels am Ortseingang bedenkt, die dort erkennbar sind mit dem Schriftzug H O T E. Dorthin ist es höchstens eine Meile weit. Und dann erstaunt mich die mangelnde Wasserqualität, wie man im Morgenlicht feststellen kann. Die Wellen lecken an meinen Füßen und Knöcheln. Das Meer wirkt aus der Nähe braun, als wäre Oleg eine Nacht lang in einer braunen, übel riechenden Brühe geschwommen, der ein wahrscheinlich organisches Material von Körnchen eine fast milchige Struktur verleiht. Dazwischen findet man die gläsernen Körper von Quallen. Oleg hat mich schon lange gesehen und scheint die Nacktheit meines Körpers für ein günstiges Zeichen zu halten, denn er schreit: „Bitte! Ich flehe Sie an!“ Er scheint nicht zu ahnen, dass die Tatsache, dass ich unbekleidet bin, etwas mit Blutspritzern zu tun hat, die nicht auf die Kleidung dürfen. Er schaut hinüber zum Ort, und dann auf die Straße, wo gerade ein Lastwagen vor mehreren PKWs her fährt. Man kann die Menschen von hier aus nicht sehen, weil sie hinter Buschwerk verborgen sind, aber man sieht das Dach des Lastwagens und hört die
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