Abendfrieden
Schließlich war es seine Mutter. Norbert wusste nur zu gut, dass sie und Amalie sich hassten. Er machte immer auf harmlos, wischte, als sei alles normal, über den permanenten Kriegszustand hinweg. Aber tief im Innern wusste er es. Einmal, sie hatte der Alten etwas zu laut den Teller hingestellt, war es aus ihm herausgebrochen: »Du hasst meine Mutter. Ich weiß wirklich nicht, was dir diese alte Frau getan hat.«
Von wegen, die arme alte Frau. In Regines Kehle würgte sich ein Ekel hoch. Schnell schenkte sie sich ein Glas Wasser ein. Amalie Mewes lag also im Koma. Das war aufregend. Bilder einer neuen beschwingten Freiheit taten sich auf, ihr eigenes Leben würde sich von Grund auf ändern … Konnte sie sich das wirklich vorstellen? Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass ihre Schwiegermutter ewig leben würde. Das hatte ja auch die Hellseherin gesagt, als sie ein Foto von Amalie Mewes mitgebracht hatte. »Aggressiv, nicht sehr gebildet. Die Dame wird noch sehr lange leben.«
Dieser Brand, was für eine merkwürdige Sache. Hatte das Schicksal ein Einsehen gehabt, um ihr, Regine, doch noch ein paar gute Jahre zu schenken? War es Zufall, oder hatte jemand mit Plan am Rad des Schicksals gedreht? Sie musste wissen, wie es Anja ging. Ah, shit, nun war es doch vorbei mit dem paradiesischen Montegrotto-Leben. Sie musste abreisen. Sie würde es einfach nicht aushalten, so fern vom Geschehen abzuwarten. Warten, dass Amalie Mewes … Nein, das konnte kein Urlaub mehr werden. Sie würde hier sitzen, angespannt wie eine Feder, in jeder Sekunde dran denkend, wann der nächste Anruf kommen würde. Regine sprang auf und zog sich ein Shirt und weiße Hosen an. Sie musste für morgen einen Flug bekommen, koste es, was es wolle.
In dem Moment schrillte das Telefon. »Pronto! Signora Mewes? Teléfono!«
»Grazie. – Mewes. – Oh, Anja. Du bist’s. Das ist gut, dass du anrufst. Ich bin ja vollkommen von der Rolle.«
»Ich auch«, kam es durch den Draht. »Du hast es also schon gehört?«
»Ja, Norbert hat mich angerufen. Was ist denn eigentlich passiert? Ein Brand? Ja, aber wie denn und wodurch?«
»Weiß man noch nicht. Jedenfalls hat man deine Schwiegermutter abtransportiert. Offensichtlich mit einer Rauchvergiftung.«
»Das ist ja ominös. Warst du in der Wohnung?«
»Ja, schon, aber vorher. Ich habe wie ausgemacht den beiden Damen das Mittagessen vorbereitet. Danach bin ich weg.«
»Dann hast du erst hinterher von dem Brand erfahren?«
»Ja, natürlich. Deine Tante hat mich informiert.«
»Und ich dachte schon, du hättest …«
»Regine, ich bitte dich. Wir haben uns doch versprochen, dass wir nie am Telefon …«
»Ja, ist ja schon gut.«
Durch die Leitung ging ein stöhnendes Seufzen. »Regine, bitte lass mich jetzt nicht hängen. Ich steh das allein nicht durch. Morgen muss ich aufs Präsidium.«
»Aufs Präsidium?«
»Ja, der Kommissar hat mich vorgeladen. Ich habe keine Ahnung, was die wollen. Ich habe ihnen doch schon alles gesagt.«
»Mach dir keine Sorgen, manchmal wollen sie eben das Ganze noch mal hören. Dein Alibi steht, was kann also passieren?«
»Ja.« Es klang kläglich. »Und nun noch die Sache mit deiner Schwiegermutter. Wer weiß, wie der Brand entstanden ist. Und ich war immerhin in der Wohnung. Vielleicht komme ich da auch noch unter Verdacht. Das ist dann ein doppelter Verdacht.«
»Nun beruhige dich. Ich sause sofort los, um für morgen einen Flug zu bekommen.«
»Danke. Danke, dass du kommst.«
»Ciao, Anja, ich melde mich.« Regine legte auf. Sie spürte eine neue undefinierbare Energie. War es die Entscheidung, statt des passiven Verharrens aktiv zu werden? War es die Erwartung, in Hamburg würde irgendetwas geschehen, an dem sie teilhaben musste? War es eine kleine Sorge um Norbert?
Sie warf einen Abschiedsblick auf die blau-weiße Einrichtung. Die bestickten Florentiner Decken, die taubenblauen Vorhänge, das weiß lackierte Tischchen. Dann ging sie hinunter und teilte dem verblüfften Empfangschef ihre Entscheidung mit. Wenig später war der Rückflug ab Venedig im Kasten. Und Giacomo blickte erneut wie ein Bernhardiner.
* * *
Das Besprechungszimmer der Mordkommission zwei war im gleichen Grauweiß wie die Büros eingerichtet. Eine Kombination, die weder störte noch erfreute und jenen unaufdringlichen Komfort-Standard bot, den man nach dem Umzug in das neue Präsidiumsgebäude in Hamburg-Alsterdorf erwarten konnte. Ein rechteckiger weißer Konferenztisch, dazu graue
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