Abenteuer des Werner Holt
Mutter«, sagte Wolzow. »Seit zwei Jahren immer dasselbe Theater, seit mein Vater an der Ostfront steht … Und so was nennt sich Offiziersfrau! Sie war schon mal im Irrenhaus, aber denkst du, sie haben ihr das Gejammer abgewöhnt?« Er bot Zigaretten an. »Hör nicht drauf, du gewöhnst dich dran. Erzähl.«
»Kennst du die Ruth Wagner?« – »Hm«, machte Wolzow. »Eine undurchsichtige Geschichte.« Er zeigte sich wenig interessiert.
Holt erzählte. Er fragte anschließend: »Glaubst du das?«
»Warum denn nicht? Voriges Jahr ist auch so was passiert. Da sind ein paar Kerle vom Bann eingerückt, die haben Abschied gefeiert. Als sie besoffen waren, haben sie das erste beste Mädel von der Straße hochgelockt, haben sie nackt ausgezogen und dann derReihe nach … na, verstehst schon. Das haben sie Äquatortaufe genannt, weil sie Marinefreiwillige waren, ganz originell, was? Das Mädel war erst fünfzehn. Der Vater wollte Krach schlagen, aber der Bannführer hat seine Leute gedeckt. Wenn er nicht Ruhe gibt, haben sie dem Vater gesagt, dann ist seine u.-k.-Stellung hin … Da hat dieser Zivilist aus Angst vor der Front gekuscht, und so wurde die ganze Sache totgeschwiegen. Das mit dem Meißner kann schon stimmen.«
»Und … wie stehst du dazu?« rief Holt.
»Das geht mich nichts an«, erwiderte Wolzow mürrisch. Aber Holt ließ nicht nach. »Geht dich nichts an? Mich auch nicht. Aber unsereins ist ja schließlich nicht irgendwer! Ist dir’s wirklich egal, was dieser Meißner angerichtet hat?« – »Reg dich nicht auf«, meinte Wolzow beschwichtigend. Aber Holt rief: »Haben wir eine Ehre im Leibe? Ja? Dann muß man … zur Polizei gehn …«
Wolzow tippte mit dem Finger an die Stirn. »Polizei? Die werden sagen, das ist Hetze gegen die Partei.«
Holt saß eine Weile erschrocken auf dem Bett. Dann sagte er trotzig: »Aber es geht um … Gerechtigkeit! Wir müssen auf eigene Faust Gerechtigkeit üben, wie Karl Moor: ›Mein Handwerk ist Wiedervergeltung.‹ Wir werden die Ruth Wagner an Meißner rächen.« – »Das Weibsbild ist mir egal«, erwiderte Wolzow. Er ging plötzlich im Zimmer auf und ab. »Der Meißner …«, sagte er dann, »das sind zwar alte Geschichten, aber immerhin: der hat mir damals meine Karriere als HJ-Führer versaut, da darf ich gar nicht dran denken … Also gut, ich überleg mir das.«
4
Holt nahm die letzten Tage vor den Ferien wieder am Unterricht teil. Die Mitschüler begrüßten ihn jubelnd, aber Wolzow fehlte. Das vergällte Holt den Tag. Er war überdies unruhig, weil es ihm nicht gelungen war, die Marie Krüger noch einmal wiederzusehen. Auf dem Stundenplan stand heute: Mathematik, Physik, Biologie und zwei Stunden Leibesübungen. Glaser hielt auf demKorridor Wache. Zemtzki rief: »Ich bin bei Benedict mit dem Vorspruch dran!« Benedict verlangte vor jeder Turnstunde eine Art Losung, die mit den Worten zu enden hatte: »Darum … Sport frei!« Zemtzki piepste: »Wenn ich ›Darum‹ gesagt hab und das linke Auge zukneif, dann brüllt ihr alle: ›… eßt Pellkartoffeln!‹ Wir probieren!« Er stand auf dem Podium und rief: »Trotz guter Kartoffelernte bleibt Sparsamkeit oberstes Gebot! Darum …« – »… eßt Pellkartoffeln!« Holt hatte gleich nach seinem Eintritt in die Klasse Wilhelm Busch zitiert: »Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör, darum … Sport frei!« Seither war die einstmals ernstgemeinte Sitte zu einer Quelle ständigen Unfugs geworden.
Mathematik bei Schöner: Der dicke Vetter holte seine Spielkarten hervor, mischte und teilte aus.
Die nächste Stunde war interessanter: Physik bei Gruber. Man begab sich ins Physikzimmer.
Gruber stand am Experimentiertisch und baute eine Influenzmaschine auf. Man brüllte ihm den Hitlergruß entgegen, denn das kleine, kugelrunde Männlein, weit über sechzig Jahre alt, war schwerhörig, fast taub. Er kleidete sich stets in grünes Loden und beteuerte immer wieder: »Ich höre famos! Ich höre fabelhaft und ziehe die Konsequenz!« Er beobachtete die Gesichter seiner Schüler argwöhnisch und strafte, wenn er jemanden auch nur die Lippen bewegen sah. Man hatte folglich gelernt, mit geschlossenem Mund die erschütterndsten Laute hervorzubringen.
Der Unterricht begann vor einer Kulisse von Urgeräuschen. Holt hatte keinen Spaß daran. Er las, das Buch unter der Bank versteckt. »Holt, nach vorn!« befahl Gruber. Er sprach sehr leise. Holt überhörte die Aufforderung, aber die
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