Abenteuer des Werner Holt
erinnern, wo Schreyer hingekommen ist.«
Wolzow flüsterte: »Sie haben heut nacht gesoffen wie die Stinte!«
»Der Herr Oberleutnant ist heute morgen zu seiner Frau vorausgefahren«, sagte der Unteroffizier. – »Richtig!« sagte der General.»Ich erinnere mich … Wenzke muß mich jetzt schnell noch wo hinfahren. Weiterfahrt sechzehn Uhr. Ab!« Der Unteroffizier polterte die Treppe hinab. Unter dem geöffneten Fenster wurde Motorengeräusch laut und entfernte sich. Nebenan schlug eine Tür. Wieder klang das klagende Geheul durchs Haus. »Richtig!« sagte der General abermals. Er erhob sich ächzend, fuhr in den blauen Luftwaffenrock und ließ sich von den Jungen die Stiefel anziehen. »Ich bringe jetzt Sibylle weg. Elektroschocks sollen das einzige sein.« Wolzow schnob durch die Nase. »Bei der hilft nichts mehr. Die sollten sie am besten gleich drinbehalten.« Der General murmelte etwas vor sich hin. Er war so groß wie sein Neffe, hatte die gleiche Adlernase und die gleichen grauen Augen unter buschigen Brauen. Er stand fertig angekleidet im Zimmer und preßte beide Handflächen gegen die Schläfen. »Verdammter Kognak! Verdammtes Gesaufe!« Er sah seinen Neffen nachdenklich an und fragte plötzlich: »Sorgen?«
»Mit der Schule«, sagte Wolzow. »Ich bleib vielleicht sitzen.« – »Dumm oder faul?« fragte der General. »Natürlich faul«, entgegnete Wolzow. »Wir rücken noch dieses Jahr ein … Erst mal zur Flak.« Der General begann zu lachen, nahm die Flasche und füllte die Gläser. »Prost! Mach dir nichts draus!«
Draußen klappten Türen, und die ätzende Stimme wurde vom Klagegeheul Frau Wolzows übertönt. Wolzow schenkte Rotwein ein.
Betäubt und angeregt lief Holt nach Hause. Am Himmel zogen Wolken auf. Als es dunkelte, flammte hinter den Bergen fernes Wetterleuchten. Holt stand am Fenster. Er dachte an den Augenblick in der Badekabine.
Am anderen Morgen fehlte Wolzow noch immer. Maaß verlas eine Anordnung: »Die Klassen III bis VI werden für drei Wochen zur Erntehilfe eingesetzt. Abreise am 21. Juli … gez. Knopf, Bannführer, Mietzsch, Oberstudiendirektor.« – »Schon drei Tage nach Ferienbeginn!« murrte Gomulka.
Nach Schulschluß fand Holt die Wolzowsche Villa verschlossen. Enttäuscht machte er sich auf den Heimweg. Aus dem Fenster desWieseschen Hauses schaute der blasse Peter und rief ihn hinein. In dem großen, hellen Salon stand der Flügel. Peter Wiese sprach leise und nachdenklich. Er setzte sich bald an den Flügel und spielte.
Wieses Spiel stimmte Holt meist ein wenig melancholisch. »Man muß etwas Formenlehre beherrschen …«, erklärte Wiese. »Die Sätze zeigen dann ihre Architektur. Ohne Formenkenntnis gibt es kein richtiges Musikverständnis.« Er schlug ein paar Takte an. »Beethoven, Sonate Opus zwei Nummer eins, ein Schulbeispiel! Der Hauptsatz: viertaktiger Vordersatz, und jetzt … vier Takte Nachsatz. Ich wiederhole noch mal. Dritter und vierter Takt sind die Wiederholung der Takte eins und zwei in der Dominante.« Er spielte. »Siebenter und achter Takt … Kadenz, ein Halbschluß … damit ist der Hauptsatz beendet …« Wiese erklärte den ersten Satz Takt für Takt. »Überleitung. Seitensatz.« Er spielte. »Schlußgruppe. Das ganze bis hierher nennt man auch Exposition. Und nun folgt die Durchführung.« Das Nacheinander der Töne wurde durchsichtig. »Ist jedes Musikstück so streng aufgebaut?« fragte Holt. Wiese holte weit aus. »Die Form zerfällt … Nur wenige Prinzipien werden noch beibehalten, zum Beispiel Achttaktigkeit …« – »Was ist eigentlich das Schwerste auf dem Klavier?« fragte Holt;
Wiese überlegte. »Klavierauszüge von Richard Strauss … Aber es ist nicht schlimm, wenn man danebengreift, Strauss klingt sowieso immer ein bißchen falsch.« Er kramte lange in den Noten. Holt horchte auf.
Das hab ich noch nie gehört, dachte er. Wiese rief stockend, während er sich abmühte: »In der Partitur klingt es natürlich ganz anders … Hier, das soll ein Glockenspiel sein … oder Triangel.« Kling-ling-ling, klimperte er im Diskant. Die Flut der Töne, dissonant und erregend, dann wieder harmonisch, verwirrte Holt. »Überreichung der silbernen Rose«, rief Peter Wiese, »da mußt du dir zwei Frauenstimmen vorstellen …«
Ich hab viel erlebt in den letzten Wochen, dachte Holt. Noch kurze Zeit, dann ist alles vorbei, der Sommer, die Stunden hier bei Wiese, die Nachmittage am Fluß. Dann beginnt das große, das abenteuerliche
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