Abenteuer des Werner Holt
Mitschüler heulten: »Holt … nach vorn!«
Er erhob sich und sagte: »Ich hab sechs Wochen gefehlt!« Gruber verstand falsch. »Nein, Ihre Aufzeichnungen brauchen Sie nicht mitzubringen.« Holt wiederholte: »Ich hab gefehlt!« – »Nun ja, eben deshalb«, beharrte Gruber. Und da geschah es, daß Holt zurückbrüllte: »Ich habe aber keine Lust.« Dann setzte er sich und zeigte ein abweisendes, gleichgültiges Gesicht.
Die Klasse jubelte, verstummte aber, als Gruber den Mund zurAntwort öffnete. Der kleine Lehrer in seinem grünen Loden rang nach Luft, dann rief er empört: »Ich hörte es famos! Keine Lust! Ich strafe es durch einen Tadel, ich protokolliere es im Klassenbuch.« Gruber schraubte den Füllhalter auf. Da erhob sich Zemtzki und rief mehrmals hastig: »Herr Lehrer … Herr Lehrer! Ich! Ich!« Er lief nach vorn zu Gruber, der ihm bereitwillig das Ohr hinhielt. »Sie dürfen ihn nicht bestrafen! Bitte, er war krank! Er hatte Gehirnscharlach! Der Arzt hat gesagt, noch lange Zeit setzt ihm der Verstand aus … Bitte … er kann nichts dafür!« Gruber stand unschlüssig. Aus der Klasse kam das Echo: »Ja! Er spinnt! Er kann nichts dafür!« – »Er ist zeitweilig blöd«, flehte Zemtzki, »Sie dürfen ihn nicht bestrafen!«
Holt war damit nicht einverstanden und erhob sich. »Das ist nicht wahr! Ich bin völlig normal!« Aber gerade diese Bemerkung schien Gruber vom Gegenteil zu überzeugen; auch mochte ihm ein kranker Schüler sympathischer als ein aufsässiger sein. Also schraubte er den Füllhalter wieder zu. »Mit Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand sehe ich von der Protokollierung des Tadels ab.« Er fügte hinzu: »Schonen Sie Ihr Gehirn!«, was ihm stürmischen Beifall eintrug.
Holt hatte keine Freude an Zemtzkis Streich. Wie mir das alles zum Halse heraushängt! dachte er. Der Gedanke an Wolzow ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Vor dem Portal der hohen Gartenmauer parkten ein paar Kraftwagen. Sollte Wolzows Vater auf Urlaub gekommen sein? Er betrachtete neugierig die Militärfahrzeuge, zwei offene Kübelwagen mit aufmontierten Maschinengewehren, mehrere Motorradgespanne und eine große Limousine. Soldaten hockten in den Fahrzeugen, mit Helmen, Karabinern, viel Gepäck und dreckverkrusteten Stiefeln. Sie sahen müde und überanstrengt aus, als hätten sie eine strapaziöse Fahrt hinter sich.
In der Halle standen ein paar Koffer herum. In einem Sessel schnarchte ein Unteroffizier, die schmutzigen Stiefel auf dem Teppich. Wolzows Zimmer war leer. Holt rief durch die Korridore, setzte sich auf das Bett und wartete.
Wolzows Augen waren klein vor Müdigkeit. »Mein Vater ist gefallen. Onkel Hans ist heute nacht gekommen, direkt aus Rußland, durch Ungarn. Er ist nach Berlin kommandiert … Laß nur«, fügte er hinzu, »ist ja alles egal. Soldat ist Soldat. Bloß meine Mutter … Onkel Hans bringt sie in die Nervenklinik. So was will Offiziersfrau sein! Komm! Ich stell dich Onkel Hans vor.«
Er schob Holt in ein großes, düsteres Zimmer. Auf der Couch am Fenster lag die hagere Gestalt des Generalmajors Wolzow. Er trug keinen Waffenrock, hatte die Ärmel hochgekrempelt, und seine Stiefel lagen auf dem Teppich. Auf einem Rauchtisch standen mehrere Rotwein- und Kognakflaschen, dazwischen Zigarettenpackungen, eine halbgeleerte Zigarrenkiste. Der General richtete sich ein wenig auf. »Aha!« sagte er. Dann ließ er sich wieder auf die Couch fallen. Wolzow bot Holt einen Stuhl an, schenkte Kognak ein und erzählte: »Vater hat noch die Offensive im Kursker Bogen mitgemacht, hast ja im Wehrmachtbericht gehört, daß da was los war …« – »Hab gelesen«, sagte Holt, ein wenig befangen in der Nähe des Generals, »jetzt greifen die Russen bei Orel an, es wird eine riesige Materialschlacht.« Der General richtete sich auf und nahm ein Kognakglas in die Hand. »Gilberts Freund? Freut mich. Auf Philipps Gedächtnis! Also Prost!« Er trank, er hatte leise gesprochen, mit einer hellen und ätzenden Stimme; jetzt sagte er, während er sich wieder auf die Couch fallen ließ: »Knoth!« Wolzow riß die Tür auf und schrie: »Unteroffizier Knoth!« Holt atmete hastig, der Kognak brannte in seiner Kehle.
Schritte polterten die Treppe hoch, eine Gestalt in Feldgrau rief an der Tür: »Herr General?« Es war der Unteroffizier, der in der Halle geschlafen hatte. »Spritfrage regeln«, sagte der General, die linke Hand flach auf der Stirn. Dann stützte er sich auf die Ellenbogen. »Ich kann mich nicht
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