Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
Energiespeicher wieder auffüllen. Ich fühlte förmlich, wie mein schmachtiger Körper auf die Nahrungsaufnahme reagierte und war bereits nach kurzer Pause zum Weitermarsch bereit. Mittlerweile hatten sich die Wolken fast vollständig verzogen, strahlender Sonnenschein sorgte nun für reichlich Wärme, durch eine leichte Brise angenehm zu ertragen. Mit jedem Schritt wurde das Laufen schöner, die Landschaft lud zum Genießen ein. Endlos erscheinende bunte Frühlingswiesen, leuchtende Rapsfelder, kleine Wäldchen und verschlafene, beinahe ausgestorben wirkende Bauerndörfer wechselten sich ab. Auf den Hügeln boten sich bei extrem klarer Luft herrliche, immer neue Ausblicke und ließen die üppige Farbenpracht entlang des Weges beinahe kitschig erscheinen. Richtig was fürs Gemüt! Begegnete weiterhin so gut wie keinem Menschen. Himmlische Ruhe!
Bis Poissons änderte sich fast nichts. Frankreich zeigte sich von seiner schönsten Seite. Selbst der äußerliche Verfall an vielen Häusern und die teils verwilderten Vorgärten vermittelten ihren ganz eigenen Charme. Deutschen Perfektionismus, der ja nicht selten in Pedanterie ausartet, sucht man in Frankreich ohnehin vergebens. Gemütlichkeit herrscht vor. Nicht selten steht eine Flasche Rotwein auf dem Tisch, wenn die Menschen vor ihren Häusern sitzen und sich miteinander unterhalten. Dabei sitzen sie in den seltensten Fällen auf modernen Gartenmöbeln mit überteuerten Sitzpolstern der aktuellen Sommerkollektion, sondern schlicht auf Baumstümpfen oder bröckelnden Steinmauern. Das hat was, strahlt für mich Gelassenheit und eine gewisse Leichtigkeit aus. Ein bisschen davon würde ich mir auch für Deutschland manchmal wünschen. Alles erscheint dort so reglementiert, ja, selbst Freizeitaktivitäten laufen nicht selten nach einem festen Organisationsplan ab. Alles muss eben seine Ordnung haben! Dazu kommt: Je enger der Terminkalender, desto besser, erweckt man dadurch doch den Eindruck, beschäftigt, wichtig zu sein! Ja, wichtig sein ist wichtig in unserer Gesellschaft. Ach, was soll das eigentlich? Am besten, jeder lebt auf seine Weise. Wichtig ist doch, dass sich die Menschen wohl fühlen, so wie sie leben, egal, ob nun in Frankreich, Deutschland oder anderswo. Ob‘s den meisten gelingt, ist eine andere Geschichte, die nur jeder für sich selbst beantworten kann. Sei‘s drum!
Ich bin zwar in der kurzen Zeit noch nicht zu einem Frankreich-Fan geworden, aber von ein paar Vorurteilen habe ich mich schon getrennt. Ganz besonders fällt mir jeden Tag die Freundlichkeit auf, die mir entgegengebracht wird. Mir bleibt allerdings auch vieles fremd, aber das liegt zu einem großen Teil an mir selber, da ich die Sprache nun mal kaum verstehe. Leider erschließt sie sich mir insgesamt nur sehr schleppend. Es wäre wohl blauäugig gewesen, zu erwarten, dass klappt, was schon vor 25 Jahren in der Schule partout nicht funktionieren wollte – französische Vokabeln und Sätze in mein Hirn zu prügeln. Muss wohl am eingebauten Sieb liegen. Was soll‘s, inzwischen komme ich trotz dieses „Defizits“ eigentlich überall ganz gut klar. Besonders fällt mir auf, dass die Franzosen es sehr schätzen, wenn man sich nur bemüht, ihre Sprache zu sprechen. Dann, aber wirklich nur dann, werfen sie wiederum ihre Brocken Englisch und/oder Deutsch mit ein, sofern vorhanden. Mit diesem bunten Sprachgemisch funktioniert die Kommunikation irgendwie immer. Wenn ich es mir recht überlege, brauche ich mich gar nicht krampfhaft bemühen, meine Französisch-Kenntnisse weiter zu verbessern, außer dem, was sowieso hängen bleibt.
Nun zurück zum heutigen Weg: Ab Poissons machte sich mein heutiges Pensum deutlich bemerkbar, besonders an meinen Füßen. Die letzten 4-5 km waren eine echte Ochsentour. Gut, dass mir eine hilfsbereite Anwohnerin gleich eine 2-Liter- Flasche mit frischem Wasser reichte, meine Kehle wäre sonst wahrscheinlich vertrocknet. Als ich mit den letzten Körnern Joinville erreichte, war die Pulle schon wieder leer. Nun „nur“ noch eine Unterkunft finden... . Vom ersten Hotel, was ich sah, existiert nur noch der blasse Schriftzug auf der bröckelnden Hausfassade, das 2. Hotel gibt’s ebenfalls nicht mehr und das 3. hat wegen Urlaub geschlossen. Herzlichen Glückwunsch! Bitte kein zweites Vaucouleurs, ging‘s mir durch den Kopf. Es war schon fast 19 Uhr und an einen Weitermarsch beim allerbesten Willen nicht mehr zu denken. Einen hatte ich noch, im
Weitere Kostenlose Bücher