Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
nicht auf Feierabend eingestellt war. Trotzdem begleitete er mich bei der Quartiersuche und wollte seine Entscheidung davon abhängig machen, wie die Unterkunft aussieht. Es gab nur eine, und zwar eine lausige Kaschemme, dazu völlig überteuert. Mir war es wurscht, mein einziges Begehren galt einem Bett. Okay, eine Dusche war auch nicht schlecht. Karl-Heinz war beim Besichtigen der Zimmer klar, dass er hier nicht bleiben würde. Er entschloss sich zur Fortsetzung des Weges. Unter normalen Umständen wäre das auch meine Reaktion gewesen. Aber eben nicht heute. Für den Körper wäre es sicher kaum ein Problem gewesen, weiterzugehen, aber wenn der Geist nicht willig ist, hat’s keinen Zweck. Und der Geist wollte halt ruhen… .
Es war also Zeit, Abschied zu nehmen. Karl-Heinz hatte natürlich keine Zeit mehr zu verlieren, 18 km warteten auf ihn. Beneiden tat ich ihn nicht, bewunderte dafür seine Stärke. Durch meine mäßige Verfassung schloss ich darauf, dass es ihm auch nicht viel besser ging. Wahrscheinlich tat es das aber sehr wohl und deshalb kostete ihn seine Entscheidung, den Weg fortzusetzen, gar keine Überwindung, war vielmehr der normalste Vorgang der Welt. Ich selbst hatte auf dem Weg nach Vézelay vor ein paar Tagen um diese Uhrzeit noch über 30 km zu gehen... .
Pilgern ist eben eine sehr individuelle, aber ganz und gar nicht programmierbare Angelegenheit. Karl-Heinz und ich sind uns übrigens sehr sicher, dass wir uns schon bald wieder begegnen werden... .
Als ich mein kleines Zimmer betrat, war ich überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, bin es jetzt noch! Ein echtes Highlight war die Dusche, mit Top- Massagefunktion wunderbar entspannend. Ausnahmsweise schenkte ich dem Wasserverbrauch mal keine Beachtung, genoss nur. Nach einer weiteren Zwischenmahlzeit dauerte es nicht mehr lange, bis ich in tiefen Schlaf versank. Das habe ich gebraucht.
Erst 3 Stunden später wachte ich auf, benötigte eine Weile, um zu realisieren, wo ich mich befand. Ich sah mich in meinem schmucklosen Zimmer um, betrachtete Wände, Decke, auch sonst jede Ecke. Lieblos ist noch die netteste Umschreibung. Als einzige Dekoration bildet ein übergroßer Fächer an der Kopfseite des Bettes farbliche Kontraste zur Tapete. So, dass es einer Vergewaltigung der Augen gleichkommt.
Aus dem einzigen Zimmerfenster kann ich auf einen schmalen von blanken Mauern eingefassten Innenhof blicken, der offensichtlich den Mittelpunkt des Familienlebens darstellt. Vorwiegend wird dort geraucht, zwischendurch was gegessen, wenig gesprochen. Ein mandeläugiges Kleinkind ist sich selbst überlassen, spielt die meiste Zeit an einem separaten Tisch mit seinem Kinderlaptop. Nur vorhin hat es einmal Rabatz gemacht, weil der genervte Großvater ihm einfach das Spielgerät wegnehmen wollte. Böser Opa! Da musste Mama kommen und trösten. Für Opa gab‘s nur böse Blicke und Schimpfe! Ob er zugehört hat? Eigentlich raucht er nur… .
Momentaufnahmen aus dem tiefsten Frankreich! Tristesse pur! „Familienidylle“ mal anders… . Nee, schön ist‘s hier wirklich nicht, eigentlich der richtige Ort, um Beklemmungen zu kriegen. Zum Glück darf ich ihn morgen wieder verlassen, weiter gehen. Schon kurz nach meinem ausgedehnten Nickerchen konnte ich mich mit diesem Gedanken sehr gut anfreunden. Zunächst galt mein Augenmerk jedoch der zerbrochenen Muschel. Ich suchte nach einer Möglichkeit, sie zu flicken. Von der Chefin des Hauses bekam ich nicht nur Sekundenkleber, sondern gleich eine neue Coquille St. Jacques, so heißt in Frankreich die Jakobsmuschel. Ich mach‘s kurz: Das zerbrochene Exemplar ist wieder sauber zusammengefügt, selbst die Bruchstelle ist kaum noch zu sehen. Alles gut! Ab morgen werden somit 2 Muscheln an meinem Rucksack baumeln. Kann da auf meinem weiteren Weg noch irgendetwas schiefgehen? Nee, oder? Mensch, was so kleine Symbole doch ausmachen können, ganz schön albern eigentlich… .
Die restlichen Aktivitäten des Tages sind schnell beschrieben: Zuerst etwas rumhängen, dann relaxen, zur Abwechslung wieder rumhängen und dann noch einmal relaxen! Die Stadt lädt wahrlich nicht dazu ein, das Haus für irgendwelche Erkundungstouren zu verlassen. Mein Bett war und ist heute genau der richtige Ort für mich, hier fühle ich mich wohl - und spüre, wie der Tatendrang in mir zu neuem Leben erwacht, mit jeder Stunde ein bisschen mehr! Gar keine Frage: Es war goldrichtig, in Prémery zu
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