Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
bleiben!
Nur einmal noch habe ich mein Bett verlassen. Da im Zimmerpreis Halbpension inbegriffen ist, habe ich mir natürlich das Abendessen nicht entgehen lassen. Im zur Unterkunft gehörenden Restaurant bekam ich wieder einmal behagliche, gemütliche, gepflegte, stil- und geschmackvolle französische Gastlichkeit geboten. Huääää! Ein lieblos gestalteter Gastraum, kitschige Kunstblumen auf blanken Tischen und grelle Neonröhren unter der Decke sorgten für Atmosphäre wie in einer Bundeswehrkantine. Wieso, bitte schön, rühmt sich ausgerechnet Frankreich für eine so besondere, weltweit einzigartige Esskultur? Hallo!? Da haben wohl ein paar Leute in grauer Vorzeit Märchen erzählt, die man für voll genommen hat. Und irgendwie hat es sich bis heute in den Köpfen der Menschen manifestiert, dass Frankreich der kulinarische Nabel der Welt ist. Geht‘s noch? Die Wahrheit persifliert dieses Bild allenfalls. Vielleicht ist ja auch alles nur Ironie! Wer weiß das schon? Fakt ist, die Gastronomie hier kannst du dir nicht schön saufen! Sorry, ihr stolzen Franzosen, das musste mal gesagt werden. Okay, das Essen heute war nicht schlecht, aber nichts, was mich in höchste Verzückung versetzt hätte. Immerhin, der Koch spielte mit 4 Gängen, überschaubaren Portionen und nett zurechtgemachten Tellern ein bisschen Haute Cuisine. Wie gesagt in Ordnung - eine ordentliche Portion deftiger Bratkartoffeln ist mir jedoch lieber! Da haste wenigstens was zwischen die Kiemen! Nun gut, als Küchenkritiker wäre ich wohl ‘ne Fehlbesetzung, bin halt Banause!
Beim Abendessen habe ich ein deutsches Rentnerehepaar kennengelernt, die ich beim Bezug ihres Zimmers durch die geschätzt 2 cm dünnen Wände schon bestens hören konnte. Sie haben die „Suite“ neben meinem Gemach bezogen, dürfen die Nacht in einem Himmelbett träumen. Die Beiden sind mit dem Auto auf dem Jakobsweg unterwegs. Im letzten Jahr ist der Mann ihn mit dem Fahrrad gefahren, hin und zurück!!!! Nun zeigt er seiner Frau den Verlauf, die Stationen und Höhepunkte der Reise und lässt sie auf sehr lebendige Weise an seinen damaligen Erlebnissen teilhaben. Schöne Idee! 2 ½ Wochen haben sie für die gesamte Strecke von Unna nach Santiago veranschlagt, von hier rechnen sie noch mit gut einer Woche. Hm, ganz so schnell werde ich es wohl nicht schaffen… .
Zunächst einmal werde ich nun fortfahren, mein Schlafdefizit vollends auszugleichen. Nur ein Wunsch begleitet mich dabei: Hoffentlich treibt es mich diese Nacht nicht aufs Klo! Um dorthin zu kommen, muss ich nämlich erst die Treppe runter, dann durch einen langen muffigen Flur und schließlich über den privaten Innenhof der Familie. Direkt daneben befindet sich der Verschlag, in dem die einzige Toilette für alle Restaurantbesucher und die Gäste der 4 Fremdenzimmer untergebracht ist. Noch Fragen? Eben, ich auch nicht! Gute Nacht!
Tag 31, Prémery - Nevers 32 km
Brave Blase! Keine Anstalten hat sie gemacht, mich in der Nacht aus dem Reich der Träume zu holen. Tief und fest habe ich geratzt, war zur Belohnung heute Morgen bestens ausgeruht. Schlafen ist halt was Feines! Auch mein Geist war wieder willig, besser gesagt, unbändig motiviert. Das Losmarschieren wurde zu einer großen Freude nach meinem Quasi-Ruhetag. Ich genoss das Alleinsein. Es scheint fast, dass mir gelegentliche flüchtige Begegnungen auf dem Weg reichen, so wie die mit Karl-Heinz. Ganz schnell habe ich meinen Rhythmus gefunden. Es bedurfte nur weniger Schritte, und alle Systeme in meinem Kopf befanden sich im Offline-Modus. Gehen als Automatismus. Nach einer Weile sah ich auf der Straße einen dicken Fleecepulli liegen. Aus größerer Entfernung hielt ich ihn irrtümlich für ein totes Tier. Es dauerte nicht lange, bis der „passende“ Mann zu dem Pulli auftauchte. Es war ein belgischer Radpilger, der den Verlust seines Kleidungsstückes bei voller Fahrt rechtzeitig bemerkte. Der erste Radpilger, den ich auf dem Weg bisher getroffen habe. Er ist zuhause gestartet und beabsichtigt, Santiago in etwa einem Monat zu erreichen. Zu der Zeit werde ich voraussichtlich meine letzten Schritte in Frankreich machen, wenn alles gut läuft. Beim Blick auf das voll beladene Fahrrad war ich richtig froh, dass ich zu Fuß unterwegs bin. Das liegt sicher an meiner Bequemlichkeit. Wenn ich nur an die Pannen, die Plattfüße, die Suche nach Ersatzteilen usw. denke, die einem als Radpilger dazwischenkommen können,
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