Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
so plötzlich losmusste? Mir ist die Zeit davongelaufen. Ich musste zu Johann. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Ich kam einfach nicht weg. Lore hat nur genervt: Hol das, mach das! Und dann Kevin, du glaubst ja nicht, wie anstrengend der kleine Kerl ist. Johann war schon ganz schwach, als ich ihm endlich was bringen konnte …«
Marie kamen die Tränen. Sie konnte nichts dagegen tun.
»Möchtest du immer noch zur Polizei gehen? Wenn sie mich einlochen, schweige ich. Das kannst du mir glauben. Johann wird sterben, wenn ich im Knast lande, Marie. Was ist jetzt? Kommst du?«
Um halb neun Uhr hörte sie Musik. Robert hatte das Radio in der Küche angestellt. Er kochte Kaffee. Es war Sonntag.
Marie hatte viel geweint. Und sie hatte sich den Kopf zerbrochen: Belog der Freund sie schon wieder? Oder lebte Johann wirklich noch?
Was war, wenn der Freund ihn die ganze Zeit irgendwo versteckt gehalten hatte? All die Monate. In welchem Zustand befand sich Johann nach einer solchen Gefangenschaft? Der Freund hatte gesagt, er liebe Johann.
Ich liebe ihn. Fast so, wie du ihn liebst, Marie!
Wenn das stimmte, hatte er ihn nicht töten können. Aber er hatte ihn auch nicht freilassen können. Johann hätte ihn verraten.
Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihr, dass Johann am Leben war. Dass der Freund Johann wirklich nicht umgebracht hatte.
Marie wusste nicht mehr, was sie tun sollte.
Sie stand auf, zog sich an, ging ins Badezimmer.
Robert hantierte in der Küche. Er hatte sich am Vortag noch eine Weile über den vorzeitigen Aufbruch ihrer Gäste aufgeregt. Dann hatten sie aber zusammen einen Teil des Grillfleisches gegessen, und Robert hatte sich beruhigt. Auf die Idee, dass es zwischen Marie und Tom ein Zerwürfnis gegeben haben könnte, während er Kevin und Lore den Hundezwinger gezeigt hatte, schien Robert gar nicht gekommen zu sein. Er war in den Stall gegangen, um seine tägliche Arbeit zu erledigen, und abends hatten sie zusammen ferngesehen. Die Samstagabendshow, das Familienprogramm. Marie hatte Roberts Gegenwart diesmal gut ertragen. Sie wusste, dass es ihr schlechter gehen würde, sobald sie allein war und zu grübeln begann.
Nun frühstückten sie zusammen. Robert hatte Teile des Brotes aufgebacken, das vom Grillen übrig geblieben war, und frische Radieschen aus dem Garten geholt. Er las Zeitung, Marie war noch zu verschlafen, um sich zu unterhalten.
Da läutete es an der Tür.
Robert und Marie sahen sich fragend an. Wer wollte am Sonntagmorgen um halb zehn zu ihnen? Um diese Zeit kam normalerweise kein Besuch. Die Nachbarn waren selbst beim Frühstück oder machten sich auf den Weg in die Kirche.
Marie rührte sich nicht.
Es klingelte wieder. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten, das spürte sie.
Robert legte seine Zeitung zusammen und stand auf. Er ging hinaus.
Marie hörte Stimmen. Eine Frau. Robert lachte.
Vielleicht hatte Marie sich doch getäuscht. Vielleicht war sie nach dem Besuch des Freundes und seiner Familie so aufgekratzt, dass sie schon die kleinsten Unregelmäßigkeiten als Anzeichen eines neuen Unheils deutete.
Robert kam zurück. Gut aufgelegt. Er hielt die Tür auf. »Marie, Besuch.«
Lore trat ein. In einem etwas schäbigen Sommermantel, einer Art Trenchcoat. Lore sah aus, als würde sie unter dem dünnen Mantel nichts tragen. Ihre Beine waren nackt, kein Rocksaum war zu sehen. Sie trug einen großen runden Plastikbehälter vor sich her und stellte ihn auf den Tisch. »Guten Morgen, Marie«, sagte sie.
Ihre Stimme klang rau, fast heiser. Ihre Augen waren geschwollen und verheult.
Sie öffnete einen Ringverschluss und hob die Haube von dem Behälter. Darunter befand sich ein Erdbeerkuchen. Lore griff in die Seitentasche ihres Mantels und zog eine Spritzdose heraus. Sie hielt die Dose schräg über den Obstkuchen und drückte mit dem Daumen auf den Auslöser. Lore zeichnete eine etwas verunglückte Spirale aus Fertigsahne auf die Erdbeerglasur. Dann schaute sie sich mit schief gelegtem Kopf ihr Werk an und sagte: »So. Das ist eine kleine Entschuldigung für das, was gestern passiert ist.«
Marie sah Robert an, der zuckte nur mit den Achseln.
Lore stand etwas verlegen da, wie eine Schülerin, die vor der Klasse ein Gedicht aufsagen soll, das sie nicht richtig auswendig gelernt hat.
Marie stand auf und schob ihr einen Stuhl hin. »Nimm doch Platz!«
Lore rührte sich nicht. Ihr Blick ruhte immer noch auf dem Erdbeerkuchen.
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