Abgang ist allerwärts
die borstigen Haare niederzudrücken.
»Ein Stein ist ins Schaufenster jeflogen, war so ein Laden halb unter der Erde und wir mittendrin, da hat nich viel jefehlt, kannste glauben. Draußen auf der Straße haben so ein paar SA-Leute im Chor jebrüllt. Die Gesichter konntest du ja nich sehen, bloß die blank gewichsten Stiefel, mit denen sie jegen die Ladentür jetreten haben. Und alles bloß wegen dem blöden Seidenkleid. Meine Schwester hat immer nur Ach-du-lieber-Gott gesagt und mir war plötzlich kalt, richtig kalt, sag ich dir. Hab ´ne Jänsehaut jekriegt und am janzen Leib jezittert. Hab immer bloß jedacht: Raus hier, raus! Angst, das ist wie Frieren.«
Die letzten Worte hatte er so leise geflüstert, als wären sie nur für ihn bestimmt. Er holte tief Luft und richtete sich auf, als wäre er mit seiner Erzählung am Ende.
Dann aber fuhr er wieder etwas lauter fort: »Das konnte ja nich lange jut gehen, jing es auch nich. Die sind bald alle verschwunden aus Stettin, die Juden, und mit dem Runterhandeln war´s vorbei. Tja, den Schaden hatten wir. Aber hättest mal was sagen sollen, damals. Ich hab mir meinen Teil jedacht. Denken kannst du, was du willst, auch heute noch.«
Er sah mir bedeutungsvoll ins Gesicht, setzte das neue Glas Bier an und leerte es wieder auf einen Zug, den Kopf weit zurückgelegt. Sein Adamsapfel bewegte sich unter seiner faltigen Haut rhythmisch auf und ab. Er wischte sich den Schaum vom Mund und fügte lakonisch hinzu: »Das Seidenkleid hat meine Schwester übrijens nie anjezogen. Die Verlobung hat nich stattgefunden, der Heinzi ist jefallen in Russland, und meine Schwester hat jahrelang nur Schwarz jetragen.«
Er griff in die Tasche seiner lappigen Baumwolljacke und legte säuberlich abgezählt einige Geldstücke auf den Tisch.
»Da könnte man lange drüber reden, über den Hitler, den Krieg und alles, aber dass jetzt jeder schuld jewesen sein soll, das stimmt nich, denn so richtig dafür war ja ich nie, so richtig nie. Na ja, ist ja auch ejal, vorbei is vorbei.« Mit einem lässigen Schwung stülpte er seine Leinenmütze über seine störrischen Haare und stand leicht schwankend auf.
Er war schon auf dem Weg nach draußen, als sich die Kneipentür öffnete und einige der Stammgäste hereinkamen. In ihrer Mitte Guntram, er hielt seinen Hut so in der Hand, dass jeder der Männer Geld hineinwerfen konnte. Kleine Scheine oder nur Münzen, auch Erwin holte aus seiner Leinenjacke ohne zu zögern eine Zweimarkmünze und warf sie in den Hut.
»Ich dachte schon, du kommst heute jar nich«, sagte er in Richtung Guntram. »Braucht alles seine Zeit«, antwortete der und griff nach einer großen Flasche Pfefferminzlikör, die Wolfgang bereits auf den Tresen gestellt hatte. Er war mit diesem Vorgang offenbar vertraut. Guntram schien es peinlich zu sein, dass ich Zeuge war.
»Geht´s um eine Wette?«, fragte ich neugierig. »Kann ich auch was in den Hut werfen?« Die Männer grinsten und Enrico, den sie im Dorf nur Tango nannten und der so etwas wie der Hansdampf in allen Gassen war, sagte in Guntrams Richtung: »Was is? Darf er mit?« Guntram druckste herum: »Also wenn du versprichst, dass du es für dich behältst und es nicht den Weibern steckst…« Ich nickte und zog mein Portemonnaie aus der Tasche. »Nee, nee, Geld will ich von dir nicht«, wehrte Guntram ab. »Also bis gleich.« Er verließ die Kneipe, in der Hand die Flasche mit dem Pfefferminzlikör.
Tango sah auf die Uhr »Jetzt haben wir noch ´ne Viertelstunde Zeit, ich schmeiß ´ne Runde.« Wir setzten uns alle an einen Tisch.
»Kann mir vielleicht einer sagen, was hier gespielt wird?« Ich sah mich in der Runde um.
»Wart´s ab, Junge, wart´s ab« Erwin hob kichernd sein Glas und sagte laut: »Auf Anita!« »Auf Anita!«, antworteten die anderen im Chor und tranken der Unsichtbaren zu. Ich wusste zumindest, dass Anita die Frau Guntrams war. Er hatte sie fünf Jahre nachdem er aus dem Westen hierher übergesiedelt war, geheiratet. Anita war eine gut aussehende Frau, in die sich so mancher im Dorf verguckt hatte. Sie war aber auf Guntram abgefahren, weil der so verdammt männlich aussah, Kraft wie ein Bulle hatte und die tollsten Geschichten aus seiner Westzeit erzählen konnte.
»Wenn du mich, als seinen Doktor fragst«, hatte Gisbert einmal mir gegenüber geäußert, »hat Guntram nur eine Geschichte und das ist die als Alkoholiker, eine, die im Westen angefangen und hier im Osten ihre wilde Fortsetzung gefunden hat.
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