Abgehakt
sind mir eine willkommene Ablenkung bei all den Toten.«
Sie lächelte freundlich, während sie ihr langes, blondes Haar hinter die Ohren strich. »Ich will Sie nicht überstrapazieren. Ich wollte wirklich nur mal schnell hören, wie Sie mit meiner Freundin Barbara zurechtkommen.«
»Frau Hansen ist eine sehr kompetente Frau, die etwas von ihrem Fach versteht.«
»Ja, das denke ich auch. Hat sie Ihnen denn irgendwie weitergeholfen?«
»Doch schon!«
»Klingt nicht wirklich überzeugt.«
»Frau Milster, was soll ich sagen? Frau Hansen verschafft uns zwar einen Einblick in die Psyche des Mörders, aber das reicht nicht, um den Fall sofort lösen zu können.«
»Wohl wahr. Ich vergaß, dass Sie schon so lange im Dienst sind, dass Ihnen Barbaras Ausführungen sicher nur begrenzt neu sein dürften. Gibt’s denn irgendwelche neuen Erkenntnisse?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Das wissen Sie doch.«
»Ja, dumm von mir. Es ist nur so, dass auch mein Mann ziemlich gestresst ist durch diese Geschichte und ich mir eben Gedanken mache.«
»Apropos Ihr Mann. Ich muss ihn unbedingt noch anrufen. Das wollte ich gerade eben machen, als Sie kamen.« Zeit, den netten Smalltalk zu beenden.
»Also habe ich doch gestört. Das hätten Sie mir sagen müssen.« Sie machte ein vorwurfsvolles Gesicht. Dann erhob sie sich und reichte ihm lächelnd die Hand. »Ich hoffe mit Ihnen, dass Sie Ihren Fall bald zu den Akten legen können.«
Er nickte nur.
»Machen Sie es gut, Herr Sandor.«
Den Rest des Tages verbrachten Martin und seine Leute damit, wieder einmal die Kollegen, Schüler und Bekannten von Eva zu befragen. Sie erfuhren allerdings nichts, was sie nicht schon wussten. Die Ergebnisse der Spurensuche würden frühestens morgen vorliegen.
Als Martin nach Hause fuhr, fragte er sich, wer der große Unbekannte war und was ihn dazu gebracht hatte, all diese Taten zu begehen. Warum hatte er so kurz nach dem letzten Mord schon wieder zugeschlagen? Hatte diese Psychologin nicht gesagt, ein Serienmörder braucht eine gewisse Ruhephase? Sollten die Abstände zwischen den Morden jetzt immer kürzer werden? Bei diesem Gedanken erfasste ihn eine schreckliche Unruhe, wie so oft in derartigen Situationen. Dieses Gefühl trieb ihn dann zu ständiger Eile an, ließ ihn nicht ruhen, bis der Fall gelöst war. Wie viele Tote würde es noch geben, bis er diesen Wahnsinnigen endlich finden würde?
21
Anne war geübt darin, ihre Erlebnisse in Schubladen im Gehirn zu verschließen, um sich auf andere Dinge konzentrieren zu können. So auch die Begegnung mit Mark am Samstag. Doch es war, als rüttelte ständig jemand an dieser Schublade, um sie wieder zu öffnen.
Als sie am Montagabend nach Hause kam, hörte sie ihr Telefon bereits vor der Tür läuten. Schnell öffnete sie, warf den Schlüssel auf die Kommode im Flur und stieß die Tür mit einem Fußtritt laut krachend zu. »Degener!«, meldete sie sich.
»Hallo, Anne. Hier ist Mark.«
Mit dir habe ich überhaupt nicht gerechnet, dachte sie und streifte die Schuhe von den Füßen.
»Ich wollte nur hören, wie’s dir geht.«
»Mir geht’s gut. Ich hatte einen angenehmen Arbeitstag. Die Kollegen waren nett, das Mittagessen gut. Jetzt habe ich Feierabend. Was will ich mehr.«
»Schön zu hören. Aber ich meinte eigentlich, wie es dir innendrin geht. Ich drücke mich total bescheuert aus, was? Liegt sicher daran, dass ich noch nie in dieser Situation war.«
»Ist schon gut. Ich weiß, was du meinst. Aber um mich brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich komme damit zurecht.«
»Wirklich?«
»Ja!«, antwortete sie mit Nachdruck und ließ sich in den Sessel neben dem Telefon fallen. »Aber mir scheint, das gilt nicht für dich?«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen.«
»Ist das nicht normal?«
»Ich glaube nicht. Ich habe das schlechte Gewissen eher dir gegenüber.«
»Mir gegenüber?«
»Ja, weil ich am Samstag so schnell weg bin.«
»Glaub mir, das war kein Problem für mich. Es war eine schöne, einmalige Sache, und das ist in Ordnung so.«
»Gut. Dann bin ich beruhigt.«
»Also dann, tschüss, Mark!« Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb Anne noch einen Moment im Sessel sitzen und gestattete sich einen Blick in die Schublade in ihrem Gehirn. Sie erinnerte sich an jedes Detail. Sehnsucht überkam sie. Wie herrlich musste es doch sein, abends nach Hause zu kommen und von seinem Mann empfangen zu werden, sich auszutauschen, gemeinsam zu essen, sich zu lieben
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