Abgehakt
Weg noch einen Kauknochen für Sunny und freute sich schon auf seine stürmische Begrüßung.
»Sunny!«, rief sie, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte. Kein Laut. Sie stutzte. Selbst wenn der Hund geschlafen hätte, käme er jetzt angerannt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was es war, sah sie in dem Augenblick, als sie die Tür hinter sich schloss und das Licht im Flur anknipste. Sunny lag auf dem Fußboden und rührte sich nicht. Aus seinem Maul quoll weißer, schleimartiger Schaum. Er hatte die Augen weit offen und bot ein schreckliches Bild.
»Nein!«, rief Anne und ließ sich sofort neben dem Hund nieder. Sie nahm seinen Hals in die Hände und legte ihr Ohr auf seinen Brustkorb, auf der Suche nach einem Lebenszeichen. »Sunny! Nein!« Sie zog den Körper des Tieres zu sich und schüttelte ihn. Als sie sah, wie sein Kopf leblos hin und her schaukelte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Immer wieder rief sie: »Nein! Nein!«, bis ihr Rufen nur noch ein Flüstern war. Sie bettete den Kopf des Hundes in ihren Schoß und streichelte ihn. Ihre Tränen tropften unaufhaltsam auf Sunnys Fell. »Wer hat das getan?«, schluchzte sie. »Wer?«
Im nächsten Moment schrillte das Telefon. Erschrocken richtete sie sich auf. Anne legte Sunnys Kopf vorsichtig auf den Boden, wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab und ging ins Wohnzimmer. Langsam nahm sie den Hörer ans Ohr.
»Na, Frau Ingenieurin«, sagte eine deutlich verstellte, metallisch klingende Stimme. »Ich wollte mal hören, ob er schon tot ist?« Anne lief es eiskalt den Rücken herunter.
»Du Schwein!« Sie sagte es fast flüsternd, und Tränen der Wut liefen ihr die Wangen hinunter.
»Nein!« Die Person sprach ganz ruhig. »Da verwechselst du was. Das Schwein bist du. Das weißt du ganz genau.«
Anne brachte kein Wort über die Lippen, lauschte nur der kalten Stimme.
»Hat es dir die Sprache verschlagen? Ich weiß schon, du fühlst dich schuldig. Du hast auch allen Grund dazu. Ich hatte dir doch geschrieben, dass du die Briefe niemandem zeigen sollst. Und was tust du? Du gehst zur Polizei. Ich habe das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst, und das macht mich ganz schön böse.« Die Stimme hörte sich an, als würde sie mit einem begriffsstutzigen Kind sprechen. »Ich hoffe, du hast jetzt endlich verstanden. Falls du eine Anzeige gemacht hast, rate ich dir, sie zurückzuziehen.«
»Du Mistkerl!«, schrie Anne in den Hörer.
»Beschimpfungen regen meine Fantasie ungemein an.« Anne hörte ein eiskaltes Lachen. »Ich weiß auch schon, was ich als nächstes mit dir mache, wenn du nicht endlich lieb bist. Und glaub mir, es wird dir nicht gefallen. Schlaf gut!«
Ehe Anne noch etwas sagen konnte, hörte sie ein Klicken in der Leitung. Sofort ließ sie den Hörer fallen, als klebte der Ekel, den sie empfand, noch daran. Dabei fiel ihr Blick auf einen Zettel neben dem Telefon. »Carsten Westphal«, las sie und starrte die Zahlen durch einen Tränenschleier an. Spontan tippte sie seine Nummer, während sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten und ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Westphal!«, meldete er sich schon nach dem zweiten Läuten.
»Hier ist Anne Degener. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Ich bin –«
»Natürlich weiß ich, wer Sie sind«, unterbrach er sie. »Wie könnte ich Sie vergessen?«
Anne hörte sein Lachen, und erneut schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie musste tief Luft holen, um weitersprechen zu können. »Sie sagten, ich könnte anrufen.«
Er hörte die Aufregung in ihrer Stimme und wusste, dass etwas passiert war. »Was ist los?«, fragte er ohne Umschweife.
»Der Hund meiner Freundin. Er liegt hier. Er ist tot.« Anne sprach stockend, immer wieder unterbrochen von Schluchzern.
»Sind Sie allein?«
»Ja.«
»Beruhigen Sie sich. Ich komme zu Ihnen. Wo wohnen Sie?«
Erneut holte sie tief Luft. »Eichenwaldstraße 3.«
»Bin gleich da.«
Während Carsten zum Wagen lief ging Anne zurück in den Flur. Beim Anblick des Hundes krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie lehnte sich gegen die Wand und rutschte an ihr herunter, bis sie auf dem Boden saß. Sie zog ihre Knie eng an den Körper und starrte das tote Tier an. Sie rührte sich nicht, bis es an der Haustür klingelte. Über die Sprechanlage hörte sie, dass es Carsten war. Sie öffnete und blickte in sein aufmerksames Gesicht.
»Ich wusste nicht, wen ich –«
»Ist schon gut. Es war keine Floskel, als ich sagte, dass Sie anrufen
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