Abgehauen
Westberliner S-Bahnhof, wo wir mit den Koffern stehen werden, die Kinder schon hier des Abenteuers überdrüssig. Die werden mich noch oft von der Seite ankucken, mich, den Verursacher ihres Elends. Werde ich es schaffen, darin eine Herausforderung zu sehen? Kann ich noch denken, ohne daß mir vorgedacht wird? Kann ich noch handeln, kann ich den kapitalistischen Freistil noch lernen? Hier habe ich diese kuschlige Villa, in die ich vielleicht eine Million verbaut und verbuttert habe, die eigenen Arbeitsstunden mitgerechnet. Wer sich die Wand ansieht, die ich errichtet habe, um mit dem Arsch an dieselbe zu kommen, der weiß, wie unmöglich mir der Gedanke gewesen sein muß, dieses Land zu verlassen. Freilich, eine Villa ist nicht alles. Aber nirgendwo ist eine gute Wohnung nötiger als in der DDR, denn außerhalb der Wohnung ist so gut wie nichts. Ein eingezäuntes, umfriedetes Haus ist für keinen wichtiger als für Leute mit öffentlichem Beruf, denn außerhalb des Hauses belästigt sie das übersteigerte Interesse der Mitbürger. Ich bin Schauspieler in der DDR, ich mußte dieses Ghetto bauen, denn an mich kommt die Öffentlichkeit den ganzen Tag ran. Kein Mensch würde auf einer Straße in Borna das Politbüromitglied Lamberz er kennen, er könnte dort unrasiert und nasebohrend einen Schaufensterbummel machen. Für mich gab es das nicht, ich mußte auf der Hut sein und mich halbwegs so vorführen, wie die Leute es erwarteten. Nach Verlassen meines Hauses wurde ich verkrampft und steif und ordentlich, ich hatte den ganzen Tag Sehnsucht nach zu Hause. Dieses Haus ist mein Refugium, hier kann ich mich erholen, hier bin ich nicht der Vorbild-Mensch Manfred Krug. Ich höre Rolf Römer, der sich gerade von einer Krankheit erholt hat, sagen: »Schlimm genug, daß mich in jungen Jahren dieser Hieb getroffen hat, sonst wäre ich wohl schon weg. Ich weiß nicht, was ich machen soll, seit November habe ich keine Zeile geschrieben, weil ich nicht weiter an den Sachen vorbeikucken kann. Ich hab die Indianer und die Krimis satt, ich hab den ganzen Laden satt. Aber schmeiß mal hin … Was soll ich im Westen? Außerdem, Annekatrin will sowieso nicht.«
Sie wollen sicher beide nicht. Sie wollen mir nur klarmachen, daß mein Entschluß nicht aus der Welt ist, daß es eine Konsequenz auch für jeden anderen werden kann. Annekatrin will immer etwas sagen, ihr Mann fährt ihr immer übers Maul. Dann sieht sie immer ein bißchen beleidigt aus. Sie war als junge Frau so außergewöhnlich schön, daß es ihr sicher mehr weh tut als anderen Frauen, diese Schönheit schwinden zu sehen, wodurch für eine Schauspielerin auch ein Teil der Arbeit ausbleibt. Ein Mauerblümchen ist sie nicht geworden, sie hat politisch zu tun, sitzt in der Stadtbezirkskulturkommission oder wie das heißt. Und dort hat sie noch einiges zu erledigen, sagt sie. Nachdem sie soeben ein Museum vor der Auflösung bewahrt hat, will sie nun dafür sorgen, daß die schon zweimal als beliebteste Fernsehansagerin ausgezeichnete Maria Moese ihre Abenddienste wiederbekommt. Die hat man ihr weggenommen, weil ihr Mann ein Unterzeichner ist. »Lamberz ist zur Kur«, sagt Annekatrin, »sonst hätte ich das schon erledigt.« Ach, Annekatrin.
Es ist spät, wir trennen uns. Die Liebe in unserer Ehe macht ihre erste Krise durch.
22. April 1977, Freitag
Am liebsten würde ich dauernd im Zimmer auf und ab laufen, aber ich komme nicht dazu, es klingelt und klingelt. Ein Mensch, den ich kaum kenne, will 20 000 Mark von mir geliehen haben, bevor ich ausreise. Niemand glaubt mir, daß ich kein Geld habe. Ich hatte nie Geld, ich hatte immer nur Sachen.
Wir fahren nach Pankow und kaufen zehn Pappkoffer und – in verschiedenen Läden – einen Zentner Zellstoff als Verpackungsmaterial. Ich fange an, einige hundert alte Schellackplatten einzukoffern.
Am Nachmittag kommt Müller-Stahl und bringt Schwester und Schwager mit. Schwester und Schwager haben einen Sohn, der seinen Dienst bei der Naumburger Transportpolizei abreißt. Der Politoffizier habe im Unterricht zu diesem Sohn gesagt, Leute vom Schlage eines Krug lebten wie die Fürsten und seien Feinde des Staates. Wenn ich statt des Ausreiseantrags ein bißchen Asche auf mein Haupt geschüttet hätte, vielleicht von der Sorte, die kübelweise beim XI. Plenum übriggeblieben ist, wie hätten sie dann den Schlenker zustande gebracht. Wie hätten sie all den Stasileuten, Lehrern, Funktionären beigebracht, daß ich eigentlich kein
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