Abgehauen
Staatsfeind, sondern doch wieder der liebe Manfred bin, der Nationalpreisträger, Heinrich-Greif-Preisträger, der Mann mit dem Bestenabzeichen der Volksarmee, mit dem Goldenen Lorbeer des Fernsehens, mit der Verdienstmedaille der DDR. Und wenn sie eines Tages rauskriegen würden, daß, sagen wir, der Hacks oder der von Ardenne Staatsfeinde wären, wie werden die dann hier gelebt haben? Wie Kaiser und Könige. Wie denn sonst? Minchens Schwager war bis vor kurzem Staatlicher Leiter, er war Intendant des Theaters Halle. Eines Tages im Januar hatte er keine Lust mehr, er schrieb einen kräftigen Brief an die Bezirksleitung der Partei, in dem er bedauerte, nicht um seine Unterschrift auf die Liste gefragt worden zu sein. Einen Tag später war er entlassen. Seit zwei Wochen ist er nicht mehr Mitglied der Partei.
Minchen redet immer seltener von seinen Ausreiseplänen, es sah eine Weile so aus, als würde er den Antrag eher stellen als ich. Nun wird es grün in dem Park, der sein Haus umgibt, der Blick auf den See stimmt versöhnlich und läßt in diesen wärmeren Tagen öfter darüber nachdenken, ob es je im Leben noch einmal einen solchen Schwanensee hinter dem Haus geben wird.
Beim Abschied wird laut Mut zugesprochen und laut gelacht, aber das klingt alles nicht gut.
Abends besuchen uns die Nachbarn Pröbrock, wir sehen uns gemeinsam den sowjetischen Film »Die Prämie« an. Ach, hätte es je in der Sowjetunion eine Brigade gegeben, die ihre Jahresprämie ablehnt, weil sie sich selbst das Geld durch eine kriminelle Planmanipulation zugeschanzt hat. Ein schöner Märchenfilm. Soll man Hoffnung daraus schöpfen, daß er überhaupt gedreht und aufgeführt werden konnte? Soll man mutlos darüber werden, daß es einen solchen entblößenden Film in der DDR nie gegeben hat?
23. April 1977, Samstag
Den ganzen Tag Besuch, den ganzen Tag Kondulationen. Während der freien Augenblicke Koffer gepackt. Am Abend den Doktor Meinhard Lüning und seine Frau, die Schauspielerin Barbara Dittus, besucht, die auf der Liste steht. Sie würde lieber heute als morgen gehen. Er wird bleiben.
Er war immer lieb zur DDR, die DDR war immer lieb zu ihm.
24. April 1977, Sonntag
Ich gehe noch einmal durch das ganze Haus, fange oben auf dem Dachboden an. Da sind die Balken, frisch bebeilt und durch und durch mit Gift getränkt, hundert Jahre holzbockfrei. Die Dachziegel heißen Biberschwänze. Wie ich das Wunder fertiggebracht habe, sie zu ergattern, habe ich vergessen. Ich klettere durch die neue Luke auf das Dach, die Laufplanken neu, die Kaminköpfe neu, mit Kupferblech umschlagen, alle Dachrinnen Kupfer, einen Millimeter stark, dünneres Blech gab’s nicht, alle Dachgauben, die Ochsenaugen und alle Abwässerungen Kupfer. Es ist windig und regnerisch heute. Auf dem Dachboden liegt ein ausgestopfter Braunbär, Geschenk einer Potsdamer Dame, die nach dem Westen gegangen ist. Seine Glasaugen sehen mich im Halbdunkel gutmütig an. »Dich werde ich wohl hier liegen lassen, mein Freund«, höre ich mich sagen. Im oberen Stockwerk der lange Korridor, an dem jedes Kind ein Zimmer hat, da ist die Bude von Daniel, das aufgeräumte Zimmer von Josephine mit verspiegelten eingebauten Schränken und die kleine Kammer von Stephanie mit eigenem kleinen Klosett. Ganz hinten das verwinkelte Stübchen für Gäste, vorn an der Treppe das Schlafzimmer mit nie benutztem Speiseaufzug und großem Balkon, daneben das Badezimmer. Wegen des Badezimmers habe ich mich einst in die Ruine verliebt. Es ist ganz mit hellem Marmor ausgekleidet, die großen Platten schwarz abgesetzt, auch die doppelt große Wanne ist eingefaßt, ebenso die Nische für das Bidet und die Dusche. Das ovale Waschbecken ist aus feinstem Carrara-Marmor und alle Armaturen alt, gediegen, hochherrschaftlich. Ein solches Badezimmer sieht man manchmal in Hollywoodfilmen der 30er Jahre, wenn es die Schauspieler anders nicht geschafft hätten, Millionäre darzustellen.
Im ganzen Haus diskret verkleidete Heizkörper, seit einem Jahr an die vollautomatische Gasheizung angeschlossen, die aus dem Westen stammt. 8000 West und 7000 Ost für die Montage. Wie ich das wieder gedeichselt habe. Ich wandere durchs Parterre, die drei schönen Wohnräume, das Speisezimmer, durch eine Schiebetür vom Wohnzimmer und der Bibliothek getrennt. Das Wohnzimmer getäfelt, alles restauriert, kein Quadratzentimeter alter, rissiger Putz mehr am Haus, nicht außen noch innen. Alles, alles ist getreu restauriert, als
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