Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
das alles nicht geschehen.
Er hätte Linda nicht zwingen müssen, Leichen zu öffnen, und Ender würde jetzt nicht mit dem Tode ringen. Vermutlich wäre Linda sogar der Kampf mit dem Stalker in der Dunkelheit der Pathologie erspart geblieben, auch wenn dessen Taten die einzigen waren, die Herzfeld nicht provoziert hatte.
»Ganz schön was los hier«, sagte Linda mit Blick zu dem hell erleuchteten Eingang des Krankenhauses. »Schätze, der Strom geht wieder.«
Herzfeld nickte.
Das mit Geld und guten Worten gedungene Rettungsteam hatte sich als wahrer Segen erwiesen und die Klinik gemeinsam mit dem Bürgermeister, einer Physiotherapeutin und mehreren Freiwilligen (ohne Ausbildung, dafür mit aufopfernder Hilfsbereitschaft) in ein taugliches Lazarett umfunktioniert, zumindest die Gebäudeteile, die nicht vom Sturm in Mitleidenschaft gezogen worden waren.
Ender und Danny waren medizinisch stabilisiert und mit dem Rettungshubschrauber aufs Festland zurückgeflogen worden. Herzfeld hatte sich angeboten, bei beiden, wenn nötig, Notoperationen noch auf der Insel mit durchzuführen, auch wenn er dafür nicht ausgebildet war, aber dann war das Wetter weiter aufgeklart. Schiffe konnten zwar noch keine auslaufen, aber für Rettungshubschrauber waren Start und Landung beinahe problemlos möglich.
»Wo hast du eigentlich deinen Assistenten gelassen?«, fragte Linda und pustete sich etwas Rauch unter den Pony. Herzfeld war sich nicht sicher, meinte aber auf ihrer Stirn mehrere schlecht verheilte Narben gesehen zu haben.
»Dem geht’s besser.«
Tatsächlich hatte Ingolf sich beim Bürgermeister bereits nach einem Sushi-Bringdienst erkundigt, seiner Logik nach eine Marktlücke auf einer vom Meer umspülten Insel. Auch die Reiseübelkeit nach dem stürmischen Hinflug schien also überstanden.
»Gib mir auch eine«, bat Herzfeld, aber er kam nicht mehr dazu, von Linda die erste Zigarette seit seiner Studienzeit zu schnorren. Die Schiebetüren der Klinik hatten sich geöffnet, und eine der freiwilligen Krankenschwestern stellte sich ihm mit einem Namen vor, den er sofort wieder vergaß, nachdem sie ihm eröffnet hatte, dass Hannah soeben aufgewacht war.
64. Kapitel
A ls Herzfeld das schmale Krankenzimmer betrat, hatte er erwartet, seine Tochter in einem matten Dämmerzustand vorzufinden, noch ganz unter dem Einfluss der Schrecken der letzten Tage. Er hatte sich geirrt. Sie war hellwach.
Und wütend.
»Was willst du?«
Drei Worte. Voller Bitternis und Feindseligkeit.
»Ich bin gekommen, um …«, setzte Herzfeld an und stockte, als Hannah sich mit funkelnden Augen in ihrem Krankenbett aufrichtete. Sie wirkte blass, die Wangen eingefallen, aber in ihrem Blick lag eine Energie, wie sie nur grenzenloser Zorn gebären kann.
»Gekommen wozu? Um dich von mir als mein Retter feiern zu lassen?«
Sie deutete im Sitzen eine Verbeugung an und machte eine ausladende Handbewegung, als wäre Herzfeld ein König und sie seine Untertanin.
Er wollte sich einen Holzstuhl vom Besuchertisch heranziehen, entschied sich dann aber dafür, stehen zu bleiben. »Ich wollte einfach sehen, wie es dir geht.«
»Weshalb?«
Er sah sie erstaunt an. Hannah verschränkte demonstrativ die Arme vor ihrem Brustkorb. »Ja, ich frage dich. Weshalb gerade jetzt?«
Noch nie hatte er sie so feindselig erlebt. Weder ihm noch anderen gegenüber.
»Aha.« Ihre Miene verhärtete sich noch mehr. »Verstehe. Mir muss also erst etwas passieren, damit du dich mal blicken lässt.«
Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie machte keine Anstalten, sie abzuwischen, ließ sie einfach laufen.
»Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest.«
»Es tut dir leid?«
Ihre Fäuste ballten sich so stark, dass ihre Knöchel weiß wurden.
»Es tut dir
leid?
« Sie schrie beinahe. »Ich hab sie sterben sehen, Papa. Das Mädchen war so alt wie ich, und ich hab verdammt noch mal jede Einzelheit gesehen, die diese Bestie ihr angetan hat.«
Ich weiß, Kleines. Und es gibt nichts, was ich tun kann, um das ungeschehen zu machen.
»Es war real. Ich hab in ihre Augen gesehen und wusste, was sie dachte. Was sie fühlte, während er …«
Sie brach erstickt ab, schloss die Augen, und Herzfeld ahnte, dass die schlimmsten Szenen von Rebeccas Martyrium noch einmal vor ihrem geistigen Auge abliefen.
»Du hättest das nicht sehen dürfen«, sagte er und trat an ihr Bett. Sie begann am gesamten Körper so heftig zu zittern, dass Herzfeld befürchtete, seine Tochter könne
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