Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
erstickten Schluchzer und löste sich erst, als sie leiser und unregelmäßiger wurden. Dann verließ er den Raum mit dem Gefühl im Herzen, das Wichtigste in seinem Leben für immer verloren zu haben.
»Sie wird sich beruhigen«, sagte Ingolf, der vor dem Krankenzimmer gewartet und offenbar alles mitgehört hatte. »Das ist nur der Schock.«
»Wenn Sie es sagen«, zischte Herzfeld und bereute es im gleichen Atemzug. Er hatte ihm nur helfen wollen.
Aber mir ist nicht zu helfen.
»Ich bin mir sicher, morgen schon wird sie ihre Worte bereuen und sich die Zunge abbeißen wollen.«
»Danke sehr, aber ich will jetzt …«
Herzfeld blieb stehen, sah zur Tür zurück, hinter der Hannah lag, dann zu Ingolf.
»Die Zunge …«
Er konnte nicht sagen, weshalb ausgerechnet diese Worte Ingolfs ihn so unangenehm berührt hatten, dass er meinte, keine Luft mehr zu bekommen.
»Wo wollen Sie jetzt schon wieder hin?«, rief ihm der Sohn des Innensenators erstaunt hinterher, doch Herzfeld handelte wie in Trance und gab ihm keine Antwort.
»Die Zunge abbeißen …«
Erinnerungsfetzen fielen wie Konfetti zu Boden, wollten sich aber zu keinem sinnvollen Bild fügen. Er dachte an das Bootshaus bei Martinek, an das Glas mit der Zunge, an Sadler. Und daran, was Linda bei ihrer ersten Obduktion zu ihm gesagt hatte.
Und während die Erinnerungen in seinem Kopf rotierten, ging er immer schneller, verfiel in einen leichten Trab, bis er schließlich den Gang des Krankenhauses zum Treppenhaus entlangrannte, die Stufen hinunter bis zur Pathologie, in der er seinen schrecklichen Verdacht überprüfen wollte.
65. Kapitel
»
F
ehlen der Leiche etwa die Kiefergelenke?«
»Nein. Irgendjemand hat der armen Sau hier die Zunge rausgeschnitten.«
Mit Lindas Stimme im Kopf und der Erinnerung an ihre erste gemeinsam per Telefon durchgeführte Sektion trat er zwischen die Sektionstische. Irgendjemand hatte beide Körper in weißen Leichensäcken verstaut. Das aber war der einzige Versuch geblieben, das Chaos der letzten Stunden zu beseitigen, die Pathologie befand sich in einem katastrophalen Gesamtzustand: Die zahlreichen Helfer, die aus dem Ort zum Krankenhaus geeilt waren, hatten ihre Spuren hinterlassen. Schneematschgeränderte Fußabdrücke zogen sich über den Boden, auf dem noch immer Instrumente, Plastikhandschuhe und sogar die fleckige Matratze herumlagen. Wenigstens der Schrank und die Liege waren wieder aufrecht gestellt worden, standen aber verloren im Weg herum.
Herzfeld öffnete den Reißverschluss des ersten Leichensacks. Weil der Körper unüblicherweise mit den Füßen voran lag, entblößte er zuerst Beine und Torso der Richterin. Selbst er konnte die blutverkrusteten, von Leichengasen aufgeblähten Hautblasen an den Oberschenkeln nur mit Widerwillen betrachten. Wie musste es erst Linda ergangen sein, noch dazu, als ein Pfahl im After der Leiche gesteckt hatte?
Er schloss den Sack wieder und wandte sich zu Sadler am Nachbartisch, dessen aufgeschnittenes T-Shirt er beim Eintreten auf dem Ablagetisch entdeckt hatte.
Jan
Erik
Sadler.
»Befindet sich Blut im Mundraum?«
Herzfeld zögerte, bevor er auch hier den Reißverschluss aufzog, um sich Sadlers Leiche genauer anzusehen.
Er schloss die Augen, versuchte noch einmal das Gesicht Sadlers zu visualisieren, so wie er es auf den unzähligen Fotos in Martineks Bootshaus gesehen hatte. Dann öffnete der den Leichensack.
Kein Zweifel.
Der Mann vor ihm auf dem Sektionstisch sah genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Herzfeld hätte ihn auch ohne die Überwachungsschnappschüsse wiedererkannt. Sadlers Bild war zum Prozessauftakt wochenlang durch die Presse gegangen. Seine Haare waren jetzt etwas länger, doch selbst die verschmierten Blutflecken im Gesicht konnten nicht darüber hinwegtäuschen: Hier lag der Mörder von Martineks Tochter Lily.
Der Mörder von Schwintowskis Tochter Rebecca.
Herzfeld beugte sich ein wenig nach vorne, um einen besseren Blickwinkel in die weit offenstehende Mundhöhle Sadlers zu haben. Mit einem Kugelschreiber, den er aus der Innenseite seiner Jacke gezogen hatte, stieß er wie erwartet ins Leere. Die Zunge war entfernt worden, so wie Linda es ihm geschildert und Schwintowski auf dem Video gestanden hatte:
»Mein Rachedurst bezog sich anfangs nur auf die Richterin. Und natürlich auf Sadler, dem ich noch an Ort und Stelle die Zunge abgeschnitten habe, mit der er Rebecca …«
»Aber wie passt das zusammen?«, flüsterte Herzfeld
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