Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
ihres Bruders war es zu verdanken, dass sie überhaupt in das Haus zurückgekehrt war. Und das auch nur, weil die Alternative, zur Polizei zu gehen, noch unangenehmer gewesen wäre.
»Und was willst du den Bullen sagen?«, hatte Clemens sie am Telefon gefragt, als Linda ihn gestern, noch vor den Brandungsmauern stehend, wieder angerufen hatte.
»Was glaubst du denn, was passiert, wenn du denen steckst, dass du zufällig über eine Wasserleiche gestolpert bist? Verdammt, Linda, wir können jetzt alles gebrauchen, nur keine Aufmerksamkeit.«
»Du meinst,
du
kannst keine Aufmerksamkeit gebrauchen.«
Was immer er Danny angetan hatte, das Schicksal ihres Stalkers war gewiss nicht zur Kenntnisnahme der Behörden bestimmt.
»Nein. Glaub mir, Kleines, ich bin nicht blöd. Mir kann nichts passieren. Aber
dein
Name steht bereits im Polizeicomputer. Und zwar nicht in der Rubrik ›Opfer‹. Du wirst als ›hysterische Zicke‹ geführt, die grundlos harmlose Männer beschuldigt. Sobald du zu den Bullen marschierst, werden die feststellen, dass dein Ex seit Tagen spurlos von der Bildfläche verschwunden ist. Und jetzt liegt ein anderer Mann tot vor deiner Haustür? Ich bitte dich. Wenn du die nächsten Tage nicht in U-Haft verbringen willst, solltest du gar nichts unternehmen.«
»Ich kann den Kerl doch nicht einfach so liegen lassen«, hatte Linda gegen das tosende Meeresrauschen angebrüllt.
»Warum denn nicht? Der wird ja wohl nicht wegrennen. Und helfen kann dem eh keiner mehr. Also geh zurück ins Haus, schließ dich ein und warte ab, bis ein anderer Dummer über die Leiche stolpert. Dann hat der den Stress an der Backe und nicht du. Und bald hat sich der Sturm gelegt, und ich komm dich wieder abholen.«
»Aber was, wenn Danny ihn umgebracht hat?«, hatte sie ängstlich gefragt.
Immerhin ging schon der Mord an Shia auf sein Konto. Linda war eines Tages nach Hause gekommen und hatte sich darüber gewundert, dass ihre Waschmaschine in den Schleudergang startete, obwohl sie seit acht Stunden nicht zu Hause gewesen war. Sie hatte ihre Katze nur noch tot aus der Trommel geborgen. Auf dem Bullauge der Waschmaschine hatte ein Post-it geklebt.
»Wenn du mich nicht mehr liebst, sollst du gar nichts mehr lieben.«
»Was, wenn der Sadist es nicht mehr bei Tieren belässt?«
»Dann müsste er mehr Leben haben als deine Katze«, hatte Clemens’ unzweideutige Antwort gelautet.
Sie hatten noch eine Weile diskutiert, und am Ende hatte ihr Bruder sich durchgesetzt. Sie zeigte den Fund nicht an, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, zum Gasthaus
Bandrupp
zu gehen, in dem sich ihres Wissens sämtliche Entscheidungsträger der Insel zur Lagebesprechung trafen. Stattdessen kehrte Linda nach oben ins Haus zurück, um sich hier im Atelier zu verbarrikadieren. Sie hatte die Nacht nur mit einer Patchworkdecke auf dem Boden verbracht und das Gefühl, nicht eine Stunde geschlafen zu haben. Jetzt spürte sie jeden Knochen und fühlte sich gleichzeitig übermüdet und aufgedreht. So als hätte sie mehrere Nächte lang durchgetanzt und sich nur mit Aufputschmitteln wach gehalten.
Linda gähnte und trat an das Sprossenfenster. Sie streckte sich und suchte dabei nach einer Lücke in der dichten, dunklen Regenwand vor ihren Augen.
Wann habe ich eigentlich das letzte Mal die Sonne gesehen?
Der Horizont war in der Nacht noch näher an die Inselfelsen herangerückt. Die Seevögel, sonst allgegenwärtig, waren verschwunden. Stattdessen flog eine einsame Plastiktüte durch die Luft, wurde von widerstreitenden Windströmen in verschiedene Richtungen gerissen und schließlich aus Lindas Gesichtsfeld über die Klippen hinaus auf die Nordsee getrieben.
Linda fröstelte. Nicht der Kälte wegen, die sie am zugigen Fenster noch stärker empfand, sondern weil sie wusste, dass sie früher oder später die Tür aufschließen und nach unten gehen musste. Lange würde sie den Druck ihrer Blase nicht mehr aushalten, und sie hatte Durst.
Und dann war da ja auch noch die Handtasche!
Ihr Blick wanderte zu der Stelle hinter dem Fenster, an der man bei besserem Wetter den Trampelpfad erkennen konnte. Ihr schlechtes Gewissen regte sich wieder.
Unten, nur einen Steinwurf vom Fuß des Kraterhügels entfernt, lag die Leiche eines Mannes, der noch vor kurzer Zeit Familie, Kollegen und Freunde gehabt hatte, die sich jetzt sicher um ihn sorgten und ihn vermissten. Irgendwo wartete jemand auf seine Rückkehr, vielleicht seine Ehefrau, und verzweifelte an der
Weitere Kostenlose Bücher