Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
etwas fühlte. »Wenn, dann sehr schwach.«
»Blut?«
»Wenig.«
»Was heißt wenig?« Herzfeld klang atemlos, als steckte auch ihm ein Messer im Hals.
»Sein Overall ist besudelt, aber es spritzt nichts aus ihm raus.«
»Dann haben wir vielleicht Glück …«
» GLÜCK ?«
»… und es sind keine wichtigen Gefäße verletzt. Wenn er noch gehen konnte, scheint auch das Rückenmark intakt zu sein.«
Wenn er überhaupt noch lebt.
»Ich weiß nicht, er ist echt übel zugerichtet, Paul.«
Linda spürte, wie sich unter ihrem Haaransatz eine Schweißperle löste, und das erinnerte sie wieder an Danny und die Säurenarben, die er ihr beigebracht hatte.
Verdammt, Clemens. Du hast gesagt, du hast dich um ihn gekümmert. Und jetzt?
Linda stöhnte und rieb sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn. »Soll ich das Messer rausziehen?«
»Auf gar keinen Fall. Auch darf er sich nicht bewegen! Halt ihn warm, wickel Decken um ihn und …« Den Geräuschen in der Leitung nach öffnete Herzfeld, wo immer er gerade war, eine knarrende Holztür und trat ins Freie. Der letzte Rest seines Satzes war vollständig in einem vom Wind erzeugten Rauschen untergegangen.
»Und
was?
«, fragte sie, während sie aufstand und überlegte, wie sie hier an warme Decken gelangen sollte, ohne die Pathologie verlassen zu müssen.
»Gib mir fünf Minuten!« Herzfeld klang jetzt weniger betrunken als schmerzverzerrt, das Telefonat schien ihm eine unendliche Last, unter der er demnächst zusammenbrechen würde. Das Windtosen im Hintergrund wurde immer lauter.
»Alles klar bei dir?«, fragte Linda, doch sie erhielt keine Antwort mehr.
»Scheiße, ich rede mit dir!«, brüllte sie, obwohl sie wusste, dass der Professor sie einfach weggedrückt hatte. Weil sie spürte, dass das Brüllen gegen die aufwallende Panik half, hörte sie nicht damit auf, Schimpfwörter in den Hörer zu schreien, bis ihre Stimme brüchig wurde.
»Was soll ich denn jetzt machen, du blödes Arschloch?«
Decken und Kissen gab es im Krankenhaus bestimmt reichlich.
Nur nicht hier unten im Leichenkeller.
Ihre Augen wanderten zu einem rot-grünen Piktogramm an der Wand über dem Waschbecken. »Im Notfall Ruhe bewahren« mahnte das Schild in Druckbuchstaben. Linda lachte hysterisch auf.
Das kann doch nur ein Idiot geschrieben haben, der noch nie in einer echten Notlage war.
»Ruhe bewahren, kompletter Mist.«
Gilt das etwa auch für Stalking-Opfer, die sich mit einer aufgeschnittenen Wasserleiche, einer gepfählten Richterin und einem sterbenden Hausmeister in der Pathologie einer stillgelegten Klinik vor einem Psychopathen verstecken müssen?
Sie sah zu den Seziertischen. Mit einem Mal wurde sie unendlich müde. Die seelischen Kraftanstrengungen der letzten Stunden hatten sie an ihre Grenzen geführt. Linda unterdrückte ein Gähnen, und dabei fiel ihr die Liege wieder ein, mit der sie die Richterin in den Sektionsraum gerollt hatten.
Die Matratze. Richtig!
Sie ging zur Liege und zog eilig den Spannbettbezug von der Matratze. Der Stoff roch zwar muffig, war aber nicht stark verschmutzt und musste fürs Erste reichen.
»Etwas Wärmeres habe ich leider nicht«, flüsterte sie Ender ins Ohr, nachdem sie das Laken zu mehreren Lagen gefaltet und über ihm ausgebreitet hatte. Als Nächstes zog sie die Latexmatratze von dem Rost der Liege und schob sie mit einiger Anstrengung zur Tür. Herzfeld hatte zwar gesagt, Ender dürfte nicht bewegt werden, auf der anderen Seite aber konnte er auch nicht lange auf den kalten Fliesen liegen bleiben.
Wenn er denn die Kälte überhaupt noch spürt,
dachte Linda, und von diesem Moment an wurde alles schlimmer.
Als Erstes riss Ender die Augen auf, schnappte nach Luft, und Linda wollte bereits Hoffnung schöpfen, als von einer Sekunde zur anderen die Lebensgeister wieder schwanden. Und dieses Mal, wie es schien, endgültig.
Sämtliche Luft wich aus den Lungen des Hausmeisters wie aus einem aufgeschlitzten Autoreifen. Ender sagte ein letztes Wort: »Hilfe!«, dann war von seinen Augen nur noch das Weiße zu sehen, bevor er buchstäblich in sich zusammenfiel.
»Nein, tu das nicht. Du darfst nicht sterben!«, wollte Linda schreien, brachte aber nicht mehr als ein ersticktes Krächzen hervor, und das war womöglich ihr Glück.
Hätte sie ihre Verzweiflung laut hinausgebrüllt, hätte sie sich vermutlich verraten und in jedem Fall das warnende Geräusch überhört: Irgendjemand stand vor der Tür der Pathologie und steckte
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