Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
einen Schlüssel ins Schloss.
37. Kapitel
O
h nein, er dreht sich.
Von ihren Eltern, stolze Besitzer eines Eigenheims, hatte Linda gelernt, immer den Schlüssel von innen stecken zu lassen.
»Das schützt vor Einbrechern. Man weiß ja nie, wer sich unbemerkt einen Zweitschlüssel hat anfertigen lassen«,
war ihre Mutter nicht müde geworden zu predigen, bevor sie regelmäßig vor dem Zubettgehen die Haustür kontrollierte.
Tatsächlich war es bei ihren Eltern unmöglich gewesen, sich Eintritt zu verschaffen, sobald von innen das Schloss blockiert war. Aber was damals in dem Reihenhaus am Stadtrand funktioniert hatte, erwies sich hier unten in der Pathologie als nutzlose Sicherheitsvorkehrung. Für Linda gab es nur eine Erklärung: Die Schiebetür musste mit einem Gefahrenschloss ausgestattet sein, bei dem es unerheblich war, ob jemand von innen den Schließmechanismus blockierte oder nicht.
Wer immer da draußen war, hatte ganz offensichtlich den Schlüssel zur Pathologie und keine Probleme damit, ihn auch zu benutzen.
Denn er dreht sich, verdammt.
Der Zylinderkern des Schlosses bewegte sich im Uhrzeigersinn, und mit ihm der Schlüssel an Enders Bund, mit dem Linda erst vor wenigen Minuten die Schiebetür zweimal verriegelt hatte.
Was soll ich nur tun?
Sie starrte paralysiert auf den langsam rotierenden Schließzylinder. Am liebsten hätte sie geschrien und sich gegen den Haltegriff der Tür gestemmt. Gleichzeitig sträubte sich etwas in ihr, sich bemerkbar zu machen und sinnlos Kräfte zu verschwenden.
Also kämpfen?
Sie blickte zum Seziermesser auf dem Boden, das sie fallen gelassen hatte, als Ender in ihren Armen zusammengebrochen war. Es lag nur wenige Zentimeter neben dem Oberschenkel des Hausmeisters, an dem nun gar nichts mehr lebendig wirkte.
Ich bin allein!,
wurde Linda im Moment ihrer größten Panik bewusst.
Allein in der Pathologie.
Vor ihrem geistigen Auge blitzte ein Comicbild auf, sie sah sich selbst als Zeichnung mit einer Sprechblase über dem Kopf, in der sich Engelchen und Teufelchen miteinander stritten.
»Ich kann nicht allein gegen einen Mörder kämpfen!«
»Wer sagt dir, dass es ein Mörder ist, der vor der Tür steht?«
»Wer denn sonst?«
»Keine Ahnung. Vielleicht jemand, der dir helfen will?«
»Ach ja. So wie er Ender, Erik und der Richterin geholfen hat?«
Linda trug ihren inneren Kampf aus, während sich vor ihren Augen der Schlüssel im Schloss weiter um die eigene Achse drehte. Wer immer sich Einlass verschaffen wollte, ging betont langsam vor, als wolle er ja kein Geräusch erzeugen und möglichst unbemerkt eindringen.
Noch eine Dreihundertsechzig-Grad-Wendung, und die matt glänzende Stahltür konnte problemlos aufgeschoben werden.
»Von einem Helfer.«
»Von meinem Mörder!«
Sie wusste, ihr blieben nur noch wenige Augenblicke – und in denen musste sie handeln, sonst würde ihr die Entscheidung abgenommen werden.
Abwarten? Kämpfen? Oder …?
Linda entschied sich für das
Oder
und spurtete zu der den Sektionstischen gegenüberliegenden Schrankwand. Auf halbem Weg machte sie noch einmal kehrt, hob das Messer vom Boden und hastete wieder zu den Kühlfächern zurück, in denen die verstorbenen Patienten gelagert wurden.
Es waren nur zwei Fächer; vermutlich rechnete das kleine Inselkrankenhaus nicht mit mehreren Todesfällen zur gleichen Zeit.
Tja, so kann man sich täuschen …
Linda öffnete ein Fach und zog so leise wie nur möglich die Liegeschiene heraus. Hinter sich hörte sie ein Klacken, also war die Tür zum Eingang der Pathologie entriegelt. In dieser Sekunde fiel das Licht wieder aus.
Schnell, schneller …
Ohne nachzudenken, steckte sie sich das Messer mit dem Griff zwischen die Zähne, zog sich mit einem Klimmzug an der oberen Kante des Leichenkühlfachs hoch und schwang sich, mit den Füßen voran, in den Schacht hinein. Hier legte sie sich auf den Rücken und zog sich, die Handflächen fest gegen das glatte Metallgehäuse des Schachts gepresst, samt der Liegefläche wie ein Bobfahrer auf seinem Schlitten
in die dunkle Höhle hinein.
38. Kapitel
W ie alle anderen Geräte der Pathologie war auch das Leichenfach neu und in unbenutztem Zustand.
Linda drückte prüfend gegen die Tür, die sie eben erst hinter sich verschlossen hatte, und war beruhigt, sie auch von innen öffnen zu können. Ebenso erleichtert war sie über die Tatsache, dass das Kühlfach anscheinend nicht an die Stromversorgung des Notstromaggregats
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