Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
„Den Kopf von dem, der schuld ist am Tod meines Sohnes!“
„Das sind gleich zwei gute Gründe für die Tat“, sagte Otto. „Umso besser.“
„Dann bleibt einer für mich übrig!“, rief Raban, der den Ausführungen des Königs mit gespannter Miene gefolgt war. „Er wird sich bei uns in Sachsen herumtreiben, um sich für die Schäden in seinem Herzogtum zu rächen. Ich kriege ihn, König, verlasst Euch auf mich!“
„Erst musst du ihn finden“, gab Hadalt zu bedenken. „Wer weiß, ob er wirklich nach Sachsen geht. Er sagt heute dies und tut morgen jenes. So kennt man ihn.“
„Wer ihn findet, vollstreckt den Richterspruch des Königs“, sagte Kurzbold entschlossen, „und wer ihn …“
Ein dumpfes Geräusch, das plötzlich von draußen ins Zelt drang, ließ ihn innehalten. Die Männer merkten auf. Die beiden Jünglinge, die in der Nähe des Eingangs standen, stießen sich an und stürzten hinaus.
„Das sind Pferde!“, sagte Otto, der vorgebeugt lauschte.
„Ein Überfall!“, stieß Raban hervor. „Sie kommen zurück!“
„Nein, sie entfernen sich. Es sind auch Wagen dabei …“
Konrad der Rote erschien am Zelteingang.
|287| „Die Sachsen!“, schrie er. „Sie machen sich davon! Ihre Zelte sind weg, ihre Plätze leer!“
Alle sprangen auf und traten hinaus.
Schattenhaft zeichneten sich in der grauen, nebligen Dämmerung die Mauern und Türme der Rheinfestung ab. Nur im Umkreis von vierzig, fünfzig Schritten war etwas wahrzunehmen. Ganz hinten im Sichtbereich, wo Zelte der Sachsen gestanden hatten, ragten nur noch einige Stangen schief aus dem Boden. Männer tauchten im Nebel auf, riefen sich etwas zu, verschwanden wieder.
Auch der junge Burgunderkönig kam zurück. Seine beiden Leibwächter liefen hinter ihm her.
„Wolltet Ihr auch unseren Herrn verlassen – wie diese Schufte?“, rief einer.
„Wie kannst du das denken!“, schrie er empört. „Ich wollte sie aufhalten! Sie sind da hinten verschwunden!“, rief er Otto und den Grafen atemlos zu und deutete in eine unbestimmte Richtung. „Einen konnte ich noch erwischen. Aber er war stärker als ich.“
Das Stampfen, Trappeln und Rollen des sich entfernenden Heerhaufens mit seinen Tieren und Wagen wurde schwächer und war bald kaum noch vernehmbar.
Die Männer standen reglos um König Otto, der lange schwieg und in den Nebel starrte.
„Erkundige dich“, sagte er schließlich zu Raban, „ob noch Sachsen im Lager sind.“
„Es scheint, fast alle sind fort“, erwiderte der Graf und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Der Dritte hat also doch noch seine Gefolgschaft. Solltet Ihr einen Auftrag für mich haben?“
„Es ist alles gesagt!“ erwiderte Otto abweisend. Fröstelnd zog er die Schultern zusammen. „Geht jetzt zur Ruhe.“
Er verschwand in seinem Zelt.
45
In den letzten Tagen des September erreichten die Grafen Konrad Kurzbold vom Niederlahngau und Udo von der Wetterau, nachdem sie die Lahn an einer Furt überquert hatten, die Motte des befreundeten fränkischen Adeligen Arnfried. Dessen Sohn Aimo, der zur |288| Gefolgschaft Kurzbolds gehörte, ritt mit ihnen an der Spitze des Zuges und rief die Wache an, damit sie die kleine Brücke zur Vorburg herunter ließ. Es waren zwei etwa zwölfjährige Jungen, die dies anstelle der Wächter taten, und die fortliefen, um den Burgherrn herbeizuholen.
Den Ankömmlingen fiel gleich auf, dass sich weder Menschen noch Tiere in der Vorburg befanden. Die einzige Ausnahme war ein Hund, der wütend kläffte, sich aber nicht zu nähern wagte. Wie ausgestorben wirkte die geräumige Anlage hinter dem Palisadenzaun, leer und unnütz schien der längliche Saalbau mit halb verbranntem Dach zu sein, ein paar kleine Wirtschaftsgebäude waren zum Teil oder fast vollständig zerstört. Dass es hier aber vor kurzem noch Leben gab, bezeugte, was überall verstreut herumlag: eine halb verkohlte Tür, die als Brennholz dienen musste, abgeschlagene Köpfe von Schafen und Hühnern, ein nicht ganz verzehrtes, verwesendes Tier am Bratspieß, leere Fässer, ein zerbrochenes Rad, ein Schuh, eine Kappe, ein Frauenrock. Aus einer der Hütten kroch schließlich ein uralter Mann in Lumpen und blickte mit trüben Augen herüber.
„Sie waren hier!“, sagte der junge Aimo mit gepresster Stimme.
„Ja, hier waren sie auch“, bemerkte Kurzbold, „und anscheinend waren sie hier besonders gründlich.“
„So weit ist es gekommen“, sagte Graf Udo, der mit grimmigen Blicken die Verwüstung
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