Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
sehr langsam das Gesicht zu. Der funkelnde Blick der kleinen Augen, vor dem alle erschraken, traf sie von unten herauf. Sie hielt ihm stand, obwohl sie am ganzen Leibe zitterte.
„Wenn ich die Zeit erlebe …?“
„Es liegt ja in Gottes Hand“, stieß sie hastig hervor, „wie viel Zeit er dem Menschen zumisst, auch einem König.“
„Manchmal liegt es nicht nur in Gottes Hand.“
„Das wollte ich damit nicht sagen.“
„Aber du hast es gesagt!“
Ein paar rasche Schritte – und er war bei ihr. Er packte ihr Handgelenk mit eisernem Griff, sodass sie aufstöhnte.
„Und nun antworte mir: Von wem hast du diese Drohung? Wer hat die Absicht, die mir von Gott zugemessene Zeit zu verkürzen? Wer ist der Verbrecher?“
„Niemand … niemand!“, keuchte sie. „Ich bitte Euch … Seid doch barmherzig … Ihr tut mir weh!“
|79| „Ist es Heinrich?“, schrie er.
„Nein, nein!“
„Hat er auch damit gedroht?“
„Nein!“
Er presste ihr Handgelenk stärker.
„Nein?“
„Er sagte nur einmal …“
„Was sagte er?“
„Ihr würdet nicht ewig regieren, denn …“
„Denn?“
„Denn es könnte Euch … könnte Euch …“
„Was?“
„Etwas zustoßen.“
„Durch ihn?“
„Nicht durch ihn … Er meinte nur …“
„Was meinte er?“
„Er sei dann selbst … der Nächste am Thron. Jedoch …“
„Jedoch?“
„Er fügte hinzu, das sei nicht ernst gemeint … nur ein Spaß. Oh, Ihr quält mich! Lasst mich doch!“
Der König stieß einen Laut aus wie ein verwundetes Tier. Er ließ Petrissas Handgelenk los, machte ein paar wankende Schritte, sank auf die Ruhebank in der Ecke.
Die Wendin bereute schon, was sie in ihrer Verwirrung, aus Angst und Schmerz preisgegeben hatte. Abermals warf sie sich auf die Knie.
„Verzeiht mir … verzeiht mir! Ich hatte kein Recht … Herr Heinrich ist noch so jung … er ist immer lustig, redet manchmal etwas daher … Ihr werdet es nicht Eurer Mutter sagen? Oh, bitte nicht … sie wird mich bestrafen! Ich dachte doch nur an unseren Sohn … weil er nur leben wird, wenn auch Ihr … wenn auch Ihr lebt!“
Otto hatte den kurzen Schreck bereits überwunden.
„Steh auf, ich verzeihe dir“, sagte er.
Langsam, jedes Wort wägend, fuhr er fort: „Du sorgst dich um Wilhelm, das entschuldigt dich. Ja, es ist wahr, sein Leben hängt von dem meinigen ab. Auch Bastarde sind gefährdet, wenn ihre Väter die Macht verlieren oder zugrunde gehen. Fürchte nichts! Du tatest das Richtige. Willst du auch künftig etwas tun, um mich zu schützen … und damit ihn?“
|80| „Das will ich!“, beteuerte sie bereitwillig. „Doch was? Wie sollte ich denn, so wie ich lebe …“
„Mein Bruder Heinrich ist dir gewogen. Er vertraut dir seine geheimsten Gedanken an.“
„Das wird nie wieder geschehen.“
„Vielleicht doch. Es bleibt dir ja immer noch eine Möglichkeit.“
„Welche?“
„Denke darüber nach“, sagte er missmutig.
In diesem Augenblick trat die Königin ein, hinter ihr eine ihrer Frauen. Sie musste Ottos heftige Reden gehört haben. „Es ist alles in Ordnung gebracht“, sagte sie zu Petrissa. „Du kannst dich jetzt wieder ankleiden.“
„Ich danke Euch, Herrin.“
Die Wendin suchte den Blick des Königs, betroffen, als habe sie nicht verstanden und erwarte noch eine Erklärung. Doch er stand schon wieder am Fenster und blickte hinaus.
Sie verbeugte sich gegen die Königin und folgte der Kammerfrau.
11
Im September 937 erlebte die
civitas
Magdeburg ein seltsames Schauspiel, das alle anderen Aufregungen und Überraschungen dieser Tage noch übertraf. In einer trüben Morgenstunde näherte sich von Nordwesten her, wo die Weiler des Nachbargaus lagen, ein Zug mit Verurteilten. Die vier Männer, je zwei nebeneinander, gingen in der Mitte, von Knechten bewacht, geführt und gefolgt von Berittenen mit Schwertern und Lanzen. Zu beiden Seiten des schmalen Sandwegs begleitete sie eine johlende, kreischende, höhnende Menge.
Die Verurteilten konnten einigermaßen zügig voranschreiten, weil man sie nicht, wie es sonst üblich war, gefesselt und mit Ketten beschwert hatte. Die wohlgenährten Männer gingen auch nicht in Lumpen wie gewöhnliche Verbrecher, sondern trugen bestickte Tuniken, pelzverbrämte Röcke und seidene Mäntel, die an den Schultern von silbernen und goldenen Spangen gehalten wurden. Die vornehme Kleidung war allerdings stark beschmutzt und beschädigt und zwei der Männer hatten ihre Köpfe mit blutdurchtränkten |81|
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