Abgründe (German Edition)
Herzschlag sie nicht verriet. Wieder ein Knacken, irgendwo rechts von ihr, aber die genaue Entfernung vermochte sie nicht abzuschätzen. Sie zog das Messer, das sie aus der Hütte mitgenommen hatte, aus dem Hosenbund. Es war ein Butterfly-Messer, wie es die Straßengangs in den Großstädten benutzten. Mit einer schwungvollen Bewegung klappte sie es auf und befestigte den kleinen Haken hinten am Griff. Ihre Hand zitterte. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Ein erneutes Knacken, diesmal näher. Sie umklammerte den Griff des Messers so fest, dass ihre Finger unter dem Druck schmerzten.
»Komm zurück, komm!«
Claire zuckte zusammen. Tränen schossen ihr in die Augen und sie hätte am liebsten losgeheult. Wie hatte er sie so schnell finden können?
Ein Pfiff, dann: »Sparky! Na komm schon, sei ein guter Junge! Dann darfst du heute Nacht auch mit im Bett schlafen!«
Claire schloss die Augen und musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszulachen. Ein harmloser Spaziergänger mit Hund. Sie kannte das. Sie hatte selbst mal einen Hund gehabt und es war ihr nie gelungen, ihm das Verlangen nach nächtlichen Spaziergängen abzugewöhnen. Sie atmete erleichtert durch. Der Hundebesitzer würde mit Sicherheit ein Handy dabei haben und sie würden die Polizei rufen können.
»Entschuldigung!« Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie entsetzlichen Durst hatte.
»Hallo? Ist da wer?« Der Mann klang verwundert. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte in seine Richtung.
»Hallo, hier, hinter Ihnen!« Jetzt konnte sie die hochgewachsene Silhouette des Hundebesitzers ausmachen. Er stand, mit einer Leine in der Hand, auf einem befestigten Spazierweg und drehte sich ruckartig zu Claire herum, als diese hinter ihm aus dem Unterholz sprang. Als sie den Mann sah, flammte für den Bruchteil einer Sekunde ein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Dann war das Bild weg und grenzenlose Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie war so gut wie in Sicherheit.
»Haben Sie mich erschreckt!«
»Bitte entschuldigen Sie«, keuchte Claire. »Ich wurde entführt und in einer Waldhütte festgehalten. Ich konnte fliehen, aber ich weiß nicht, ob der Kerl hinter mir her ist! Bitte, wir müssen dringend die Polizei rufen!« Sie spürte Tränen in sich aufsteigen und ihre Stimme versagte.
»Okay, okay, beruhigen Sie sich. Nehmen Sie erstmal das Messer runter…« Der Spaziergänger hob die Hände und trat alarmiert einen Schritt zurück.
Erschrocken blickte Claire auf das Butterfly-Messer, um das ihre Hand noch immer verkrampft war. Sie schloss es und stammelte eine Entschuldigung.
»Schon gut, schon gut. Kommen Sie. Ich bringe Sie aus dem Wald und von der Straße aus rufen wir die Polizei.«
Claire trat näher an ihn heran und ergriff die Hand, die er nach ihr ausgestreckt hatte. Seine Stimme hatte etwas Vertrautes an sich, das sie augenblicklich ruhiger werden ließ. Sie schluchzte und wischte sich über die Augen.
»Ganz ruhig, kommen Sie.«
»Und Ihr Hund?« Claire blickte auf.
»Welcher Hund?«
Sie brauchte einen Moment, um die Worte zu verstehen, aber als sie endlich die passenden Schlüsse gezogen hatte, war es zu spät.
Er ließ ihre Hand los, zog das Seil, welches sie für eine Hundeleine gehalten hatte straff und schloss es von hinten um ihren Hals. Seine Stimme war eiskalt, als er, ganz nah an ihrem Ohr, zischte: »Mein Hündchen ist ausgerissen. Aber jetzt habe ich es wieder.«
Seine Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken und sie empfand nichts als unendliches Grauen. Dann sank sie in eine tiefe, gnädige Schwärze.
-51-
Ethan wusste nicht, den wievielten Kaffee er gerade trank. Ausnahmsweise war es mal nicht sein Job, der ihn wach hielt, sondern die beiden bedeutendsten Frauen in seinem Leben: Seine Verlobte Claire und Madison, wie auch immer man die Beziehung beschreiben wollte, die ihn mit ihr verband. Um drei Uhr nachts war der Anruf aus der Klinik gekommen. Maddi ginge es nicht gut und er solle schnellstmöglich herkommen. Bei seiner Ankunft hatte man ihm erklärt, sie haben einen neu angestellten Pfleger mit ihrer Gabel bedroht. Jetzt saß Ethan auf ihrer Bettkante und versuchte, sie zu beruhigen.
»Ich kannte den Kerl nicht! Er hätte von Birch bezahlt sein können!«
»Maddi, du musst nicht bei jedem Fremden befürchten, dass er dir etwas antun will.«
»Genau das habe ich bereits einmal zu wenig in meinem Leben befürchtet!«
Ethan sah auf und
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