Abgründe (German Edition)
ihn mit seinem Äußeren tatsächlich regelrecht anwiderte. Er hielt nichts davon, sich als Polizist körperlich gehen zu lassen. Er hatte immer zu den Besten gehören wollen, in allen Gelegenheiten, die sich ihm boten, und Dicke waren da eben eingeschränkt.
Während Jermyn seinen Teller zum Tisch balancierte und sich setzte, sah Ethan sich um. Die Küchenmöbel bestanden aus dunklem Holz, das sich stark von dem weißen, glatten Steinboden abhob. Unzählige Kellen, Wender und Messer hingen an Haken von einer chromfarbenen Leiste. Die Arbeitsplatte war voll mit Geräten, die für Ethan aussahen wie von einem anderen Stern. Offensichtlich war der Doktor ein passionierter Hobbykoch.
»Leben Sie allein?«
»Sehe ich aus wie einer, um den sich die Frauen reißen?«
Ethan betrachtete das hagere Gesicht des jungen Mannes. Er war zu höflich, um zu verneinen. »Was will ein alleinstehender Mann wie Sie mit einem so großen Haus?«
»Oh, das Haus ist mir nicht wichtig. Mir geht es nur um den Keller, wo ich die entführten Frauen foltere. So was in der Art wollten Sie doch hören, oder?«
Ethan platzte so langsam der Kragen. Dieser Kerl nervte ihn nicht weniger als der durchgedrehte Katzen-Freak vor ein paar Tagen.
»Was macht Sie so sauer, Detective?« Der Psychologe betrachtete Ethan und begann zu essen.
»Was mich sauer macht? Dass wir seit Wochen einem Mörder hinterher jagen, der sich Opfer um Opfer holt und wir kein Stück weiterkommen! Was denken Sie denn?«
»Aah, ich glaube, das ist längst nicht alles. Sie fühlen sich unwohl in meiner Gegenwart. Sie fahren sich andauernd mit den Händen durchs Gesicht und vermeiden es, mich allzu lange anzusehen. Ich denke, Sie haben Angst vor mir.«
Ethan ließ ein überhebliches Lachen hören.
»Ja, Sie lachen, aber das beeindruckt mich nicht. Machos wie Sie sind leicht zu durchschauen. Sie verstecken Ihre Ängste und Fehler hinter Männlichkeit.«
»Ich verstecke gar nichts.«
» Jeder versteckt etwas, Detective.«
»Ach ja? Was verstecken Sie ?«
Die beiden Männer sahen einander für einen Moment an, dann lachte Jermyn und deutete mit der Gabel auf Ethan. » Touché . Gut gekontert.«
»Hören Sie, Doktor Jermyn«, antwortete Ethan, der das Gefühl hatte, wieder Oberwasser zu bekommen. »Ich bin wegen Claire hier. Ich brauche Informationen, die mir helfen, sie zu finden. Sie lebend zu finden.«
»Sie ist nur meine Patientin. Ich glaube nicht, dass ich Informationen habe, die Ihnen weiterhelfen.«
»Bitte denken Sie genau nach.«
»Das habe ich, seit ich von ihrer Entführung erfahren habe.«
»Könnte es sein, dass Claire etwas belastet hat? Wissen Sie von einem Geheimnis, das sie hüten könnte?«
»Genau wie Sie, ja.« Jermyn sah auf und in seinen Blick mischte sich ein betroffener Ausdruck. »Wir wissen beide, dass dieser Vorfall nicht nur Sie getroffen hat, Detective Hayes. Claire war bei mir in Behandlung, weil sie noch Jahre nach dem Eingriff unter ihrem Entschluss gelitten hat.«
Ethan sah den Therapeuten noch für einen Moment an, dann nickte er und stand auf. Er wollte mit ihm nicht über seine Beziehung zu Claire sprechen und erst recht nicht über das, was schief gelaufen war. Es reichte, wenn sie es so offenherzig tat.
»Bitte halten Sie sich bereit. Es könnte sein, dass ich Ihnen noch weitere Fragen stellen muss. Und ich rate Ihnen, nichts zu verbergen zu haben.« Er steckte sein Notizbuch ein und ging zur Tür.
»Sie genießen es, unverschämt zu sein.«
Ethan blieb auf halbem Weg zur Tür stehen.
»Wann immer Ihr Gegenüber Sie für respektlos hält, fühlen Sie sich super, richtig? Weil Sie wissen, dass Ihr autoritärer Vater das nicht so super finden würde?«
Ethan fühlte sich, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Verdammt, dieser Psychologe war gut. Oder bluffte er nur?
»Ich bitte Sie, Detective, jetzt stehen Sie nicht da wie ein begossener Pudel. Ich habe einen Marymount-Abschluss. Männer wie Sie haben meist einen sehr bestimmenden Vater. Ich gehe davon aus, dass es Erlebnisse in Ihrer Kindheit und Jugend gegeben hat, die Sie zu dem gemacht haben, was Sie sind: Zu einem Mann, der nach Perfektion strebt. Der seine eigene Unzulänglichkeit bekämpft und sich doch immer wieder wie ein kleiner Junge freut, wenn er seine gefestigte Fassade einstürzen lassen kann wie ein Kartenhaus. Welches Erlebnis verfolgt Sie bis heute, Detective? «
Ethan schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich darauf, seine Fäuste
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