Abgründe (German Edition)
abgelöst. Claire landete unsanft auf dem Boden und musste sich erst einmal orientieren. Dann robbte sie los. Sie kam nur langsam von der Stelle, Splitter bohrten sich in ihre unbedeckten Knie.
Nach Stunden, wie es ihr vorkam, erreichte sie den Tisch. Einen Moment lang blieb sie liegen und rang nach Atem. Als ihre Lungen zu brennen aufhörten, begann sie den Tisch mit Tritten zu malträtieren. Scheinbar war er nicht viel stabiler als die Dielen und so dauerte es nicht lange, bis eines der Tischbeine nachgab. Gegenstände prasselten auf Claire herunter. Etwas Spitzes stach in ihren Oberarm und blieb stecken. Ein Dartpfeil.
Claire unterdrückte einen Schmerzensschrei und sah sich genauer an, was vom Tisch gefallen war: Ein Gasbrenner, ein Messer und – sie jubelte innerlich – eine Säge ...
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Als Ames die kleine Geisterstadt erreichte, in der er sich mehr zu Hause fühlte als überall sonst, hatte er sich einigermaßen gefasst. Er hatte geduscht, um den Albtraum abzuspülen, doch ein ungutes Gefühl war geblieben.
Der Mond war heute Nacht nicht mehr so voll wie bei seinem Abenteuer mit Roxanna Johnsonn, aber es war immer noch hell genug, um sich ohne Taschenlampe durch den Wald bewegen zu können. Mittlerweile hätte er den Weg allerdings auch blind gefunden.
Er öffnete das Tor zum Wasserturm, lehnte es hinter sich an und schritt durch das raschelnde Laub zu der windschiefen Hütte, die aussah, als würde sie jeden Moment unter der Last der vergangenen Jahrzehnte zusammenbrechen. Er sah sich kurz prüfend um und genoss die Erwartung einer Nacht mit einer neuen Freundin, die ihm vollkommen ausgeliefert sein würde.
Dann öffnete er die Tür und erstarrte. Der Stuhl lag auf dem Boden, Teile der Bodendielen waren gesplittert und herausgebrochen. Die Lehne des Stuhls war an einer Seite zersägt worden, Sägespäne sprenkelten den schmutzigen Boden. Das Fenster war eingeschlagen, sein Werkzeug lag auf dem Boden verteilt und, was ihn am meisten erschreckte: Claire war verschwunden.
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Seit Claires Vermisstenmeldung lief der Countdown – das war ihnen allen klar. Sie mussten so schnell wie möglich so viele Informationen wie möglich sammeln, um diesmal vielleicht den Hauch einer Chance zu haben.
Ethan war froh über das Vertrauen seiner Kollegen. Gott sei Dank hatten sie nach dem Fund der Visitenkarte keine falschen Schlüsse gezogen und ihn verdächtigt. Dieser Fehler hätte dem Täter nur zusätzlich Luft verschafft. Zeit, die er sicher dazu genutzt hätte, noch mehr Unheil anzurichten.
Mason war der Letzte, der am späten Abend das Büro betrat. Sie alle hatten den Tag damit verbracht, Spuren nachzugehen und Zeugen zu befragen.
»Wie geht es Christopher Travis?«, wollte Gladys wissen, als Mason schnaubend zu Atem gekommen war.
»Wie wohl? Er feiert sicher keine ausgelassene Party mit seinen Jungs und ein paar Stripperinnen, soviel steht fest.«
Gladys sparte sich einen Kommentar und wandte sich Ethan zu. »Am Fundort war nicht mehr viel zu holen.«
Ethan nickte und hatte alle Mühe, sich nicht von der Ergebnislosigkeit ihrer bisherigen Ermittlungen erdrücken zu lassen.
»Gut, also… Donovan und mir kam die Visitenkarte seltsam vor. Die Pappe war dick und weich, eher wie Löschpapier. Im Labor haben sie durch einen Schnelltest herausgefunden, dass die Karte mit LSD präpariert war.«
»Mit LSD?« Dewey sah Ethan zweifelnd an.
»Lysergsäurediethylamid. Gramm und nicht wie üblich Milligramm. Auf einem so genannten Blotter«, fügte Donovan hinzu.
Ethan setzte zu einer genaueren Erklärung an. »Ein Blotter ist eine Pappe, die eine extrem hohe Menge LSD aufsaugen kann. Eigentlich gelangt das Zeug über die Schleimhäute in den Körper, aber der Entführer spekuliert darauf, dass die Frauen es durch die hohe Menge über die Haut aufnehmen.
Gladys nickte wissend. »Wie bei Albert Hofmann, dem Entdecker der Droge.«
Ethan pflichtete ihr bei. »Offensichtlich ist sein Plan aufgegangen.«
»Euch ist klar, welche Frage sich uns dann jetzt stellt?» Gladys warf einen Blick in die Runde. «Hat der Mörder sich Claire ausgesucht und sie mit Ethans Karte geködert um uns eins auszuwischen oder beziehen sich all seine bisherigen Taten in irgendeiner Form auf Ethan?«
Ethan senkte den Blick und spürte, wie sich alle Augen auf ihn richteten. Er konnte nur hoffen, dass Gladys Unrecht behielt.
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Claire konnte noch nicht lange fort sein. Ames hatte den Stuhl und den Boden inspiziert und
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