Abgründe (German Edition)
hier abhob. Er fuhr an sie heran, unschlüssig, ob er nicht einfach kehrt machen und zum Revier zurückkehren sollte.
Gestern Abend hatte er sich noch für das geschämt, was er jetzt schon wieder im Begriff war, zu tun. Doch das hier war die einzige Möglichkeit, ruhig zu werden, für heute Abend. Und wenn es nicht so wäre, würdest du schon eine andere Ausrede finden, dachte er sarkastisch.
In diesem Moment wurde Ethan die Entscheidung abgenommen, denn es klopfte an die Fensterscheibe der Beifahrertür. Vor der Wagentür stand die Prostituierte, die er eben an dem vollgesprayten Stromkasten entdeckt hatte. Sie grinste ihn an, als er das Fenster herunter ließ. Ihre Zähne waren strahlend weiß im Vergleich zu ihrer gebräunten Haut. Ihre Augen waren groß und dunkel, wie die von Evangeline, was dieser ganzen Aktion einen Hauch von Masochismus verleihen würde.
»Was ist, bist du noch unentschlossen?«, fragte sie und ihr mexikanischer Akzent überzeugte ihn endgültig davon, sie in den Wagen zu bitten.
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Sie trug kurze Jeans-Hotpants und eine dazu passende, bauchfreie Bluse. Ihre Figur war perfekt, wie die einer Sportlerin. Nachdem Ethan ihr erklärt hatte, wie das Spielchen laufen würde, hatte sie ihn überreden wollen, die Waffe zu entladen. Doch dass wäre nicht das Gleiche gewesen. Stattdessen hatten sie für den Notfall ein Codewort vereinbart. Sie hatte es wählen dürfen und sich für Piñata entschieden. Ethan wusste, was das war. Eine große Figur aus Pappmaché, auf die man mit Stöcken einschlug, bis sie platzte und Süßigkeiten und Konfetti heraus regneten. Ein großer Witz. Dass er jetzt, kurz vor seinem vielleicht wichtigsten Einsatz, nach dem gescheiterten Versuch einer hoffnungsvollen Beziehung, wieder hier war, in einem schmuddeligen Motelzimmer, mit einer Frau, die ihn vermutlich für das verachtete, was er von ihr verlangte, war auch nichts anderes als ein großer Witz.
Er hatte seiner Begleitung, die vorgab Giannina zu heißen, gesagt, dass er sich auf das Rollenspiel vorbereiten wolle und war ins Bad verschwunden. In Wahrheit versuchte er bloß, seine Gedanken unter Kontrolle zu kriegen. Er drehte das kalte Wasser auf und schüttete es sich mit den Händen ins Gesicht. Heute wollte es ihm einfach nicht gelingen, abzuschalten. Es war, als beobachte er sich selbst und was er sah, ließ ihn ernsthaft an seinem Verstand zweifeln. Verdammt, er hatte eines von diesen Mädchen geschwängert und dafür Evangeline verlassen, die ihm jetzt schon so sehr fehlte, dass er eigentlich nichts anderes wollte, als sich in seinen Wagen zu setzen und zu ihr zu fahren. Was tat er stattdessen?
Er sog die stickige, feuchte Badezimmerluft ein und verabschiedete sich innerlich von dem Ambiente, das dieser Ort verströmte. Dann trat er aus dem Bad.
»Ich werde mich nicht ausziehen!«, verkündete Giannina.
Offensichtlich glaubte sie, das Spiel würde nun beginnen. Doch Ethan kam sich einfach nur lächerlich vor. Lächerlich und schäbig. Er sah Evangelines perfektes Gesicht vor sich. Sie würde ihn verachten, wenn sie je erfahren würde, was er hier tat. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass es auch in diesem Raum viel zu stickig und zu heiß war und eilte zum Fenster, um es zu öffnen. Das Motel war zweistöckig und über ein paar niedrige Nebengebäude hinweg konnte er den Freeway sehen, auf dem jetzt, in der Mittagshitze, zahllose Menschen aus der Innenstadt heraus in ihre Pause strömten. Menschen, in deren Leben weder durchgeknallte Serienmörder noch schwangere Prostituierte eine Rolle spielten.
»Was ist denn?« Giannina näherte sich ihm vorsichtig, aber Ethan nahm sie gar nicht richtig wahr.
»...Ethan?«
Er schüttelte leicht den Kopf und atmete tief durch. Giannina schien zu spüren, dass es vorbei war, bevor es überhaupt begonnen hatte. Sie schlang die Arme um seinen Oberkörper und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ihr schwerer Duft raubte Ethan fast den Atem. Wortlos blickte er hinaus auf die nicht enden wollende Kette von Autos, die sich über den Freeway schlängelte. So langsam sollte er zurück zum Revier fahren. Sein Team wartete dort darauf, den denkbar grausamsten Serienmörder, den die Ostküste je gesehen hatte, endlich zu stellen. Er sollte sich nicht hier, in dieser Absteige, mit einem weiteren Mädchen verstecken, dessen Leben er zu allem Übel auch noch gefährdete, indem er sie kennen gelernt hatte.
»Entschuldige.« Er löste sich aus ihrer Umarmung und drehte sich zu
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