Abgründe (German Edition)
Nur für den Fall der Fälle.
Weil er angenommen hatte, dass sie in lebendigem Zustand nicht noch einmal mit anderen Menschen als ihm in Kontakt treten würde, hatte er vorhin, bei ihrer Entführung, darauf verzichtet, sich großartig zu verkleiden. Mittlerweile trug er wegen dieser ärgerlichen Patrick-Hanson-Sache zum Glück Kapuze und Sonnenbrille.
Ames steckte das Fläschchen in die Hosentasche. Bevor das LSD zum Einsatz kam, hatte er noch etwas weitaus Unangenehmeres zu erledigen. Eine persönliche Notiz an Ethan Hayes.
Mittlerweile stand die Sonne tief über dem See und Ames hatte seine Schreibarbeit mehrmals unterbrochen. Einmal, um den Kofferraum mit der Hure darin wieder zu schließen und einmal, um sich einfach ein wenig die Beine zu vertreten. Dieser Brief hatte ihn mehr Mühe gekostet, als er geglaubt hatte. Zweimal hatte er neu begonnen und war auch mit dem Endresultat nicht zufrieden, aber ihm lief die Zeit davon. Jetzt würde er Jillian in ihre Verkleidung stecken, dann würde er ihr die Lage erklären und ihr klar machen, was er mit ihr anstellen würde, wenn sie sich nachher verriet. Sie hatte praktisch die Wahl - schneller, schmerzloser Tod oder langsamer Tod voll unendlicher Höllenqualen.
Er wusste auch schon, was er tun würde, um ihr diese Wahl zu erleichtern. Wenn sie nachher Hayes, dem Helden gegenüberstand, durfte sie auf gar keinen Fall Hoffnung schöpfen. Sie durfte auf gar keinen Fall um Hilfe rufen können.
Ames nahm grinsend ein kleines Etui aus seiner Tasche und ging damit zum Wagen. Er öffnete den Kofferraum und fand Jillian als bewusstloses Bild des Jammers vor. Mit einer festen Ohrfeige holte er sie zurück ins Reich der Lebenden. Sie riss die Augen auf und schrie gedämpft durch das Klebeband. Ames lächelte und öffnete das Etui. Er nahm die dickste Nadel, die er in dem Nähset finden konnte, das er in einem kleinen Gemischtwarenladen irgendwo zwischen Michigan und Virginia erstanden hatte. Dann riss er gut fünfzig Zentimeter von dem dicksten Garn ab, das im Set enthalten war. Jillians Augen folgten entsetzt seinen Bewegungen.
Er fädelte das Garn umständlich ein, dann wandte er sich an seine neueste Freundin.
»Wenn du schreist...« Er riss ihr das Klebeband vom Mund und sprach erst dann seine Drohung aus. »...schlitze ich dich bei vollem Bewusstsein von oben bis unten auf.«
Sie schluchzte und presste sofort angstvoll die Lippen aufeinander. Ames lächelte zufrieden, dann ließ er das Stück Klebeband auf den Waldboden fallen und packte Jillians Gesicht fest mit der frei gewordenen Hand.
Als er die Nadel ansetzte, fragte er fast beiläufig: »Sag mal, heißt du eigentlich wirklich so? Jillian Cherry?«
Sie nickte hektisch.
Ames grinste und stieß die Nadel durch die dünne Haut oberhalb ihrer roten Lippen.
-103-
Ethan hatte es irgendwie geschafft, sich ein Hemd überzuhängen und es provisorisch zu schließen. Weit mehr Probleme hatte ihm die Hose bereitet, aber nach ein paar Minuten hatte er auch das hinbekommen und sich langsam auf den Weg durch den Flur gemacht.
Seine Kräfte verließen ihn schon nach wenigen Metern und er spürte, dass er sich maßlos überschätzt hatte. Sein rechter Arm schmerzte, alles drehte sich und die Schmerzmittel vernebelten ihm immer noch die Sinne, doch die Sorge um Jillian und sein ungeborenes Kind war zu groß, als dass er sich einfach tatenlos zurück in sein Bett legen konnte. Sein Ungeborenes... Ethan hoffte wirklich, dass Jilly sich irrte; bei all den Männern durcheinander gekommen und er nicht der Vater war. Eines stand jedoch fest: Wenn er es war, dann würde er nicht den gleichen Fehler wie bei Haley machen. Auch wenn Jillian um einiges anständiger zu sein schien als Katy, Haleys Mutter.
Ethan schlich weiter den Gang entlang. Die Unsicherheit und das Tempo, mit dem er sich fortbewegen musste, nervten ihn selbst. In seinem Kopf herrschte ein Chaos aus Empfindungen. Er verspürte Hass, der von Schuldgefühlen und Sorge um die Menschen überlagert wurde, die ihm etwas bedeuteten. Stärker noch als das war das beklemmende Gefühl der Machtlosigkeit, mit der er der Situation gegenüberstand. Es musste einen Weg geben, den Mörder zur Strecke zu bringen. Irgendwann machte jeder Fehler.
Ethan hatte die Tür erreicht, welche die Intensivstation vom Rest der Unfallstation trennte.
Jillians Anblick war furchtbar. Ihre Lippen waren geschwollen und wiesen eine Reihe tiefer, blutiger Einstichlöcher auf. Die
Weitere Kostenlose Bücher