Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
dass er sie nicht doch begangen hat. Das ist
eben der Unterschied zwischen Jurisprudenz und dem richtigen Leben. Ein Ermittler, der nicht misstrauisch werden würde, wenn eine Person, die am Brandort angetroffen wurde, bereits einmal wegen eines gleichen Deliktes auffällig war, hätte den Beruf verfehlt.
Peter W. war ein verklemmt wirkender junger Mann, der kaum den Mund aufbekam. Jedes Wort musste man ihm aus der Nase ziehen. Vor einem Jahr sei er mit seiner Mutter und deren jetzigem Lebensgefährten aus Sachsen-Anhalt nach München umgesiedelt. Seine Mutter und sein Stiefvater in spe hätten hier ein Lokal übernommen. Er sei zwar gelernter Elektriker, arbeite aber derzeit in der Kneipe mit, weil er noch nicht das Passende gefunden habe. Wenn die Kneipe an der Münchner Freiheit um 2.00 Uhr schließe, gehe er gerne noch etwas spazieren oder suche noch ein anderes Lokal auf, um in Ruhe ein Bier trinken zu können. So sei er zufällig an dem Haus in der Hohenzollernstraße vorbeigekommen, in dem es gebrannt habe. Wie einige andere Helfer auch, habe er versucht, nachzusehen, ob Leute in Gefahr wären, aber man habe nichts machen können. Alles voller Qualm, er habe selbst fast keine Luft mehr bekommen. Aus, fertig, vorbei. Mehr sei da nicht gewesen.
Nun weiß man, dass Brandstiftung und sexuell motivierte Überfälle auf Frauen artverwandt sind, was die Täter betrifft. Jedenfalls fällt auf, dass Sexualtäter oft auch als Brandstifter unterwegs sind. Vermutlich deshalb, weil beide Tätertypen von Hass getrieben werden und das Gleiche im Sinn haben, nämlich Vernichtung und Zerstörung. Und in gewisser Weise spielt auch Feigheit eine Rolle. Frauen sind schwächer als Männer. Und heimtückische Brandlegung ist nicht mit direkter Konfrontation
verbunden. Aber noch etwas ist den Kollegen der Brandfahndung aufgefallen: Peter W.s verblüffende Ähnlichkeit mit unserem Phantombild. Um keinen Verdacht zu erregen und um uns nicht ins Handwerk zu pfuschen, hatten sie ihn aber nicht darauf angesprochen. Was richtig und vernünftig war. Manchmal ist es eben besser, nichts zu überstürzen. Gut Ding braucht Weile. Ein Lieblingsspruch besonnener Ermittler.
Peter W. wurde erkennungsdienstlich behandelt. Dann wurde die Mordkommission eingeschaltet.
Als man mir ein Foto von Peter W. vorlegte, war ich mir mit allen anderen Betrachtern sicher: Die Ähnlichkeit mit dem Fahndungsporträt war wirklich auffallend. Als wäre das Phantombild vom Foto abgezeichnet worden. Wir holten uns die beiden einzigen Zeugen, die unseren »Messerzwerg« gesehen hatten, und führten eine Lichtbildvorlage durch. Das bedeutet, dass die Zeugen unter etwa einem Dutzend gleich gestalteter Fotos von unterschiedlichen, aber sehr ähnlich aussehenden Personen den oder die Täter herausfinden sollen. Und zwar sicher. Alles andere nützt nichts. Auch dann nicht, wenn das Urteil »ähnlich« oder »wahrscheinlich« lauten sollte. Ein Verfahren, das den Zeugen mehr abverlangt als eine Gegenüberstellung mit realen Personen. Es sind eben nur Lichtbilder, die zudem nur den Kopf aus dreierlei Perspektiven zeigen - nämlich von vorne, von schräg vorne mit linkem Ohr und von der Seite mit rechtem Ohr. Bertillon-Fotos nennt man diese spezielle Katalogisierung - benannt nach dem Kriminalisten und Anthropologen Alphonse Bertillon (1853-1914), der dieses System erdacht hat.
Unser braver Zeitungsausträger war sich zu 90 Prozent
sicher, dass Peter W. derjenige war, den er in jener Nacht weglaufen sehen hatte. Aber eben nur zu 90 Prozent. Anita H. dagegen reagierte so, wie nur jemand reagieren kann, der plötzlich einer Person gegenübersteht, die ihm Böses angetan hat. »Das ist er, das ist er!«, schrie sie auf und zeigte mit dem Finger auf sein Bild. Dann begann sie sofort zu weinen. Es sei plötzlich wieder alles da, schluchzte sie. Obwohl sie doch schon das Gröbste überstanden zu haben glaubte. Armes Mädchen, dachte ich mir, du wirst dieses Trauma nie ganz überwinden, und ich nahm sie in den Arm und versprach ihr, dass sie keine Angst mehr haben müsse.
Der zuständige Staatsanwalt erwirkte einen Haftbefehl gegen Peter W. Die Ähnlichkeit mit dem Phantombild und die Tatsache, dass er von der Geschädigten zweifelsfrei wiedererkannt worden war, begründete den dringenden Tatverdacht. Hinzu kam die Vorgeschichte, die exakt ins Täterprofil passte.
Es war wieder Freitagabend, als wir den Haftbefehl in Händen hatten. Wir entschlossen uns für die direkte
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