Abgründe
gewartet, bis Lína nach Hause kam. Er ging davonaus, dass sie allein war. Er hatte das Auto in angemessener Entfernung geparkt und war zum Angriff übergegangen, als sie ihn ins Haus gelassen hatte. Er hatte ihr keinerlei Möglichkeit gegeben, Erklärungen zu verlangen oder sich zu wehren. Er konnte sich ebenfalls nicht genau an das erinnern, was sie gesagt hatte. Zuerst hatte er ihr einen Schlag auf die Schulter versetzt und ihr ausgerichtet, um was es ging. Anscheinend wollte oder konnte sie aber nicht verstehen, was Sache war. Er hatte ihr dann einen weiteren Schlag versetzen wollen, wieder an der Schulter oder irgendwo am Oberkörper, doch er hatte zu weit ausgeholt und sie am Kopf getroffen. Daraufhin war Sigurlína zusammengebrochen. Dann hatte er jemanden ins Haus kommen hören und sich versteckt.
»Bist du wirklich so dämlich, dass du dich nicht erinnern kannst?«, fragte Sigurður Óli.
»Schnauze!«, sagte Höddi.
»Mit was sollte sie aufhören?«, fragte Finnur. »Was hat Lína gemacht, was du unterbinden solltest?«
»Nichts.«
»Wer hat dich darum gebeten?«
»Niemand.«
Sigurður Óli schaltete das Aufnahmegerät aus. »Wir machen morgen weiter«, sagte er. »Du lässt dir hoffentlich heute Nacht die Sache durch den Kopf gehen.«
»Vergiss es«, sagte Höddi.
Sechsundvierzig
Der Abend war bereits fortgeschritten, als Sigurður Óli vor einer eindrucksvollen Villa in einem neuen Stadtteil am Elliðavatn vorfuhr. Das kastenförmige Haus hatte ein Flachdach und war weiß verputzt; aus den riesigen Fenstern mit Aluminiumrahmen hatte man eine hervorragende Aussicht auf den See. Vor den zwei Garagentoren standen zwei schwarze Jeeps. Das Grundstück rund um das Haus war von Gartenarchitekten angelegt worden: eine Sonnenveranda mit Jacuzzi, und durch den Garten führten Wege mit brandungsgeschliffenem Geröll und Natursteinplatten. Große Bäume waren gepflanzt worden, unter anderem ein Goldregen.
Sigurður Óli betätigte die Klingel. Vor der Haustür stand ein kleines Kinderfahrrad mit bunten Bändern an den Lenkergriffen und nur noch einem Stützrad rechts. Da hatte jemand Fortschritte gemacht.
Ihm war sehr wohl bewusst, dass er im Begriff war, sich das schwächste Glied in der Kette vorzuknöpfen. Doch er hatte nicht die geringsten Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns. Seiner Meinung nach war es einen Versuch wert, ein wenig Druck auszuüben und zu sehen, was dabei herauskam.
Die Tür wurde von einer Frau um die dreißig geöffnet, die ihn freundlich anlächelte. Sie trug ein weißesT-Shirt und brandneue Jeans, und sie schien ziemlich beschäftigt zu sein.
»Könnte ich vielleicht mit Knútur sprechen«, sagte Sigurður Óli ruhig. Er wollte nichts überstürzen. Vermutlich würde die Frau diesen Besuch nie im Leben wieder vergessen können.
»Komm herein«, sagte die immer noch lächelnde Frau liebenswürdig. »Er packt gerade seinen Koffer, und ich backe, du musst mich also entschuldigen.«
»Vielen Dank«, sagte Sigurður Óli. »Hat er eine größere Reise vor?«
»Nein, nur nach London und dann nach Luxemburg.«
»Die Arbeit nimmt ihn sehr in Anspruch«, sagte Sigurður Óli.
»Ja, und ewig diese Reisen«, sagte die junge Frau, so als sei das etwas äußerst Lästiges.
Sie fragte ihn weder nach seinem Namen noch danach, was er von ihrem Mann wollte. Sie war geradeheraus und freimütig und kannte offensichtlich keinen Argwohn. Vielleicht war es das kindliche Gesicht gewesen, das sie fasziniert hatte, dachte Sigurður Óli.
»Anschließend wollen wir uns in Griechenland treffen und ein bisschen Urlaub machen«, fügte sie hinzu, bevor sie sich auf den Weg in die Küche machte. »Dazu haben wir uns gestern entschlossen. Er sagt, er hätte es verdient.«
Ein schüchterner Junge, der ungefähr fünf Jahre alt sein mochte, tauchte in der Tür zur Küche auf, er war über und über mit Mehl bestäubt. Er sah Sigurður Óli misstrauisch an und beeilte sich wieder zurück in die Küche.
Die Frau war durch die Küche nach hinten gegangen,um ihrem Mann Bescheid zu sagen. Knútur tauchte aus den verwinkelten Tiefen des Hauses auf. Als er Sigurður Óli in der Diele sah, war er sofort auf der Hut.
»Was willst du denn hier?«, fragte er leise, beinahe flüsternd.
»Wir müssen dir noch ein paar Fragen stellen, das duldet leider keinen Aufschub«, antwortete Sigurður Óli. »Die Ermittlung ist in vollem Gange, und es sind noch ein paar Einzelheiten zu klären.«
Er verwendete den
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