Abgründe
nach Mittag, und einige wenige Gäste hingen mit einem Glas Bier vor sich entweder am Tresen oder an einem der kleinen, runden Tische herum. Sie starrten neugierig zu Sigurður Óli hinüber, der keineswegs zu den Stammgästen um diese Tageszeit zählte. Sigurður Óli hatte nicht gesagt, dass er von der Kriminalpolizei war. Ein Mann um die dreißig kam ihm ungebeten zu Hilfe. »Ich hab Kristján gestern in einem Baumarkt gesehen, ich glaube, er arbeitet jetzt da.«
»In was für einem Baumarkt?«, fragte Sigurður Óli.
»An der Hringbraut.«
So wie Sara ihn beschrieben hatte, erkannte Sigurður Óli ihren Bruder sofort, und anscheinend hatte der Junge tatsächlich eine Stelle bei diesem Baumarkt angetreten. Er beobachtete ihn eine Weile, bevor er sich ihm näherte, und sah, dass Kristján angestrengt bemüht war, sich etwaige Kunden vom Leib zu halten. Erfummelte erst an den Regalen mit Schrauben herum, und als ein Kunde auf ihn zukam, flüchtete er schnell in die Elektroabteilung zu den Glühbirnen. Dort lief er aber einem Mann in die Arme, der sich bei der Wahl einer Sparbirne beraten lassen wollte. Den verwies er an einen anderen Verkäufer, angeblich war er selber beschäftigt. Er hatte Sigurður Óli bemerkt und befürchtete, dass der ebenfalls ein Kunde sein könnte, der nicht zurechtkam. Schließlich gelang es Sigurður Óli, ihn in eine Ecke zu drängen.
»Bist du Kristján?«, fragte er kurz angebunden.
Kristján gab das zu. Schon beim ersten Anblick hatte Sigurður Óli gewusst, dass er nicht der Mann sein konnte, der zur psychiatrischen Klinik gerannt war und ihn im Dunkeln abgehängt hatte. Er war sich nicht sicher, ob Kristján überhaupt imstande war, einen Baseballschläger zu schwingen, schmächtig wie er war, ein junger Spund um die zwanzig, an dem der Arbeitskittel herunterhing wie schmutzige Wäsche. Wie ein geprügelter Hund, dachte Sigurður Óli.
»Ich bin von der Kriminalpolizei«, sagte er und blickte sich um. Sie standen hinter einem Ladenregal mit diversen Gartenartikeln. Kristján fingerte an einer Heckenschere herum. »Ich habe mit deiner Schwester gesprochen«, fuhr Sigurður Óli fort, »sie hat mir gesagt, dass du ihr Auto geklaut hast.«
»Das ist gelogen, ich habe es nicht geklaut«, sagte Kristján. »Sie hat mir den Wagen geliehen. Ich habe ihn auch schon zurückgebracht.«
»Wohin bist du mit dem Wagen gefahren?«
»Was?«
»Weshalb brauchtest du das Auto?«
Kristján zögerte. Er vermied es, Sigurður Óli ins Gesicht zu blicken, legte die Heckenschere zurück und griff nach einer Plastikflasche mit einem Düngemittel.
»Das ist meine Angelegenheit«, sagte er unsicher.
»Das Auto stand in einer Straße nicht weit vom Laugarás-Kino. Dort wurde eine Frau überfallen und ermordet, und zwar an demselben Abend, als du mit diesem Auto unterwegs warst. Wir wissen, dass du ganz in der Nähe warst, als die Tat verübt wurde.«
Kristján glotzte Sigurður Óli verständnislos an, doch der gab ihm keine Zeit zu überlegen.
»Was hast du dort mit dem Auto gemacht? Weshalb hast du es über Nacht dort stehen lassen?«
»Das ist … Das muss ein Missverständnis sein«, sagte Kristján.
»Wer war bei dir?«, fragte Sigurður Óli ungeduldig und trat einen Schritt auf ihn zu. »Wir wissen, dass ihr zu zweit wart. Wer war bei dir? Und weshalb habt ihr die Frau überfallen?«
Kristján hatte sich vermutlich in irgendeiner Form auf eine Begegnung dieser Art vorbereitet, doch in dem Augenblick, wo es darauf ankam, verflüchtigte sich alles, was er sich zurechtgelegt hatte. Sigurður Óli war schon viele Male Zeuge gewesen, wie junge Männer wie Kristján zusammenbrachen. Sie hatten vor ihm gestanden und ihn verstockt angelogen, hatten die Schnauze aufgerissen, alles abgestritten und ihm gesagt, er solle sich verpissen – und dann auf einmal wendete sich das Blatt, sie gaben klein bei und waren kooperativ. Kristján erinnerte immer mehr an einen geprügelten Hund und stellte das Düngemittel so ungeschickt zurück, dass drei Flaschen umkippten und herunterfielen. Er bücktesich, um sie aufzuheben. Sigurður Óli sah ihm zu und machte keinerlei Anstalten, ihm dabei behilflich zu sein.
»Ich glaub es nicht, dass Sara mich verpfiffen hat«, sagte Kristján.
Idiot, dachte Sigurður Óli im Stillen.
Neunzehn
Sigurður Óli hatte nicht das geringste Interesse daran zu erfahren, wie Kristján auf die schiefe Bahn geraten war. Derartige Geschichten hatte er schon zu Hunderten
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