Abgründe
dem Absatz um, verließ die Küche und das Haus und ging zu seinem Wagen. Beim Einsteigen warf er einen letzten Blick zum Küchenfenster, das zur Straße ging, und sah, wie Ebeneser die Kaffeekanne packte und mit aller Kraft gegen die Wand schleuderte. Das Glas zersprang in tausend Stücke, und der Kaffee spritzte wie Blut durch die ganze Küche.
Auf dem Weg nach Hause machte Sigurður Óli einen Zwischenstopp im Fitness-Studio, lief etliche Kilometer, stemmte Gewichte, als gelte es sein Leben, und rackerte sich an diversen Geräten ab. Zu diesen Zeiten morgens und abends traf er meist dieselben Leute. Manchmal unterhielt er sich mit ihnen über irgendwelche Belanglosigkeiten, manchmal nicht, wenn er in Ruhe gelassen werden wollte. Das war jetzt der Fall. Wenn jemand ihn ansprach, antwortete er kurz angebunden und wechselte das Gerät. Nachdem er sein Programm durchgezogen hatte, fuhr er auf dem schnellsten Weg nach Hause.
Dort angekommen bereitete er sich einen ordentlichen Hamburger mit Ciabatta-Brot, Zuckerzwiebeln und Spiegelei zu. Er trank ein amerikanisches Bier dazu und sah sich eine amerikanische Unterhaltungsserie im Fernsehen an.
Er war zu rastlos, um lange fernzusehen. Als ein schwedischer Krimi begann, schaltete er das Gerät aus, blieb aber in seinem Fernsehsessel sitzen. Wieder fiel ihm der Besuch seines Vaters ein, und er überlegte, ob er einen Termin bei einem Spezialisten machen oder lieber nichts unternehmen und es einfach darauf ankommen lassen sollte. Den Gedanken, auf einmal zu einer Risikogruppe zu gehören, fand er unerträglich. Er hatte immer auf seine Gesundheit geachtet und hielt sich für kerngesund. Noch nie hatte er sich wegen irgendetwas untersuchen lassen müssen. Er war stolz darauf, nie in seinem Leben im Krankenhaus gewesen zu sein. Das Einzige, was ihn hin und wieder plagte, waren Erkältungen wie die, die er gerade hinter sich gebracht hatte.
Sein Notizbuch lag auf dem Boden. Als er seinen Mantel über den Stuhl gelegt hatte, war es aus der Tasche gefallen. Sigurður Óli stand auf, blätterte darin und legte es auf den Schreibtisch im Wohnzimmer. Er hatte nie Angst vor Krankheiten gehabt und sich nie Gedanken darüber gemacht, dass er eine schwere, unheilbare Krankheit bekommen könnte. Er strotzte vor Gesundheit. Trotzdem überlegte er, sich an einen Urologen zu wenden. Er wusste, dass er das früher oder später tun musste, denn mit der Ungewissheit konnte er nicht leben.
Er nahm noch einmal sein Notizbuch zur Hand, denn er erinnerte sich, dass da noch etwas war, wo er nachhaken musste, etwas, was er vergessen hatte. Er ging noch einmal durch, was er sich in den letzten Tagen notiert hatte, und stellte fest, dass ihm keine schwerwiegende Nachlässigkeit unterlaufen war, es ging nur darum, eine Telefonnummer zu überprüfen. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht sehr spät, also griff er nach dem Telefonhörer.
»Ja«, sagte eine müde und desinteressiert klingende Frauenstimme.
»Entschuldige, dass ich so spät noch anrufe«, sagteSigurður Óli. »Du kennst eine Frau, die Sara heißt, sie ist deine Freundin?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte die Frau schließlich.
»Stimmt es, dass sie am vergangenen Montag bei dir zu Besuch war?«
»Wer?«
»Sara?«
»Was für eine Sara?«
»Deine Freundin.«
»Wer ist überhaupt am Apparat?«
»Die Kriminalpolizei.«
»Was will die von mir?«
»Sara?«
»Nein, die Kripo?«
»War Sara am vergangenen Montag bei dir?«
»Willst du mich etwa auf den Arm nehmen?«
»Auf den Arm nehmen?«
»Du musst dich verwählt haben.«
Sigurður Óli las die Nummer vor.
»Doch, die Nummer stimmt«, sagte die Frau, »aber hier arbeitet keine Sara. Ich kenne keine Sara. Du sprichst mit der Kasse im Universitätskino.«
»Bist du nicht Dóra?«
»Nein, und hier gibt es keine Dóra. Ich arbeite schon seit vielen Jahren hier, und ich kenne keine Dóra.«
Sigurður Óli starrte auf die Nummer in seinem Notizbuch und sah einen stählernen Ring in der Augenbraue und eine Tattoo-Schlange, die sich um den Arm einer weiteren und sehr überzeugenden Lügnerin ringelte.
Achtzehn
Sigurður Óli überlegte, ob er Sara offiziell zur Vernehmung ins Dezernat vorladen und sie direkt an ihrem Arbeitsplatz in der Getränkefirma abholen lassen sollte, und zwar von uniformierten Polizisten. Das würde ihr bestimmt Angst einjagen und sie mürbe machen, sodass sie womöglich bereit war zu reden. Keine
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