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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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kam.«
    »Weißt du, wo er sich im Augenblick befindet?«
    »Wahrscheinlich zu Hause bei sich. Oder bei der Arbeit.«
    »Du glaubst nicht, dass er untergetaucht ist?«
    »Vielleicht«, sagte Kristján achselzuckend.
    »Wo könnte er untertauchen?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Bestimmt nicht?«
    »Nein.«
    Sigurður Óli fuhr noch eine Weile fort, Kristján auf den Zahn zu fühlen. Mit gutem Erfolg, denn trotz zahlreicher Mordandrohungen von Þórarinn gab Kristján freimütig Auskunft. Dabei stellte sich auch heraus, dass Þórarinn, genau wie viele andere in der erbärmlichen Unterwelt von Reykjavík, einen Spitznamen hatte, und der erklärte Sigurður Óli einiges.
    Toggi Sprint.

Zwanzig
    Anfangs hatte er kaum Gelegenheit gehabt, den Mann kennenzulernen, der mit seiner Mutter zusammenlebte. Seine Mutter nannte ihn immer nur Röggi, und er war wenig zu Hause. Manchmal fuhr er zur See, manchmal arbeitete er irgendwo auf dem Land, um Sigurveig und ihren Sohn kümmerte er sich kaum.
    Nachdem man ihn wieder nach Reykjavík geholt hatte, war er meistens völlig auf sich allein gestellt. Er lernte ein paar Kinder in seinem Viertel kennen, die in seinem Alter waren, und ging manchmal mit ihnen ins Kino. Als er im Herbst in die Schule kam, traf er einige von ihnen in seiner Klasse wieder. Morgens musste er selber wach werden, seine Sachen zusammensuchen und sich ein Pausenbrot schmieren, falls denn überhaupt etwas Essbares in der Küche vorhanden war. So früh am Tag war seine Mutter noch nicht auf den Beinen, denn sie blieb abends lange auf. Manchmal kamen Gäste, die er nicht kannte und auch gar nicht kennenlernen wollte. Dann durfte er nicht auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, sondern musste ins Schlafzimmer der Mutter ausweichen. Manchmal hörte er Betrunkene lärmen, und einmal kam es zu einer Schlägerei. Jemand rief die Polizei, und aus dem Fenster beobachtete er, wie einer der Trunkenbolde abgeführt wurde, und erhörte die Verwünschungen, mit denen er die Polizisten überschüttete. Sie fassten den Mann nicht mit Samthandschuhen an, schleuderten ihn gegen die Tür und brachten ihn zu Fall, indem sie ihm ein Bein stellten. Seine Mutter stand daneben und keifte die Polizisten an. Dann schlug sie die Tür zu, und die Party ging bis zum Morgen weiter.
    Er schämte sich, den Tausendkronenschein verloren zu haben, den ihm der Bauer zum Abschied geschenkt hatte. Auf der Fahrt in die Stadt hatte er ihn immer wieder aus der Hosentasche herausgeholt, um ihn zu betrachten, dann wieder zurückgesteckt und immer wieder nachgefühlt, ob er noch da war. Als er darauf wartete, abgeholt zu werden, hatte er vor lauter Angst, dass ihn niemand abholen würde, das Geld ganz vergessen. In der Wohnung seiner Mutter war er dann am Küchentisch eingeschlafen und auf dem Sofa aufgewacht. Den Geldschein hatte er ganz vergessen, er war es ja auch nicht gewohnt, irgendetwas zu besitzen, und schon gar nicht ein solches Vermögen. Erst spät am Abend erinnerte er sich an das Geschenk. Er hatte seine Hose immer noch an und fasste in die Tasche, dann in die andere und schließlich in die Gesäßtasche. Er nahm sich die Jacke vor, die er angehabt hatte, und suchte in allen Taschen, in seinem Koffer, in der Küche, auf dem Sofa, im Wohnzimmer – sogar hinter dem Fernsehgerät. Er sagte seiner Mutter, was passiert war, dass er den Geldschein verloren hatte, und er bat sie, mit ihm zum Busbahnhof zu gehen, um dort nachzufragen.
    »Tausend Kronen!«, sagte seine Mutter. »Wer soll dir denn tausend Kronen gegeben haben?«
    Er brauchte eine ganze Weile, um seine Mutter zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagte.
    »Der Schein ist dir ganz bestimmt aus der Tasche gefallen«, erklärte Sigurveig. »Den kannst du vergessen. Niemand gibt einen Tausendkronenschein zurück! Was für ein Schussel du bist, das ist sehr viel Geld. Aber vielleicht hast du das ja auch bloß geträumt?«, fragte sie dann und zündete sich eine Zigarette an.
    Als er sie weiter bedrängte, rief sie schließlich beim Busbahnhof an. Er hörte bei dem kurzen Gespräch zu.
    »Nein, natürlich nicht, daran habe ich auch nicht geglaubt«, sagte sie, als man ihr versichert hatte, dass dort kein Tausendkronenschein gefunden worden war.
    Und damit musste er sich abfinden. Seine Mutter wollte nichts mehr von dem Geldschein hören. Als Rögnvaldur das nächste Mal nach Hause kam und seine Mutter die Rede auf das Geld brachte, erklärte er, nichts darüber zu wissen, er habe diesen

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