Abgründe
schlechte Methode, dachte er. Die andere Möglichkeit bestand darin, noch einmal an ihrem Arbeitsplatz aufzukreuzen, ihr zuzusetzen und ihr alles Mögliche anzudrohen. Er könnte sie in Handschellen abführen oder mit ihren Vorgesetzten sprechen, um sie als Lügnerin bloßzustellen. Er wusste zwar nicht, wie abgebrüht Sara war, dazu kannte er sie nicht gut genug, aber er ging davon aus, dass sie im Zweifelsfall log wie gedruckt. Die Telefonnummer im Kino war ihr ganz leicht über die Lippen gegangen. Sie hatte wahrscheinlich gehofft, dass er nicht nachhaken würde.
Natürlich konnte er nicht wissen, ob die Wahrheit irgendetwas mit dem Überfall auf Lína zu tun hatte, auch wenn Sara ihm eine Lüge aufgetischt hatte. In Anbetracht dessen entschloss Sigurður Óli sich für die zweite Option. Sara konnte auch hundert andere Gründe haben, ihn anzulügen.
Sara war an ihrem Platz in der Telefonzentrale derGetränkefabrik, mit dem Ring in der Augenbraue und der Schlange am Arm – beides eine Art von Rebellion gegen Normalität und Kleinbürgerlichkeit jeder Art. Geschmacklos und primitiv, dachte Sigurður Óli, als er sich ihr näherte. Sie telefonierte gerade. Sigurður Óli wartete eine ganze Weile, aber als das Gespräch kein Ende nehmen wollte, verlor er die Geduld, riss ihr den Hörer aus der Hand und knallte ihn auf die Gabel.
»Wir müssen uns etwas eingehender miteinander unterhalten«, sagte er.
Sara sah ihn völlig perplex an. »Was ist denn mit dir los?«, fragte sie.
»Entweder hier oder im Dezernat, das ist deine Entscheidung.«
Eine Frau, die etwas älter war als Sara, stand hinter dem Tisch und sah erstaunt zu den beiden hinüber. Sigurður Óli beobachtete, wie Sara der Frau nervöse Blicke aus den Augenwinkeln zuwarf. Ganz offensichtlich wollte sie auf keinen Fall irgendwelches Aufsehen an ihrem Arbeitsplatz erregen.
»Darf ich eine kurze Pause machen?«, fragte sie die Frau, die sofort nickte. Zu lange durfte es aber nicht dauern.
Sara ging Sigurður Óli in Richtung Kantine voraus, betrat sie aber nicht, sondern öffnete die Tür zum Treppenhaus daneben.
»Was willst du denn jetzt schon wieder von mir?«, fragte Sara, als die Tür ins Schloss gefallen war. »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«
»An dem Abend, als der Überfall geschah, hast du keineswegs deine Freundin besucht. Und die Sachlage ist inzwischen auch eine ganz andere, es geht nichtmehr nur um schwere Körperverletzung, sondern um Mord. Und du hast versucht, mich mit der Nummer von deiner Freundin an der Nase herumzuführen.«
»Keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Sara und kratzte sich an der Schlange.
»Wieso war dein Auto in der Nähe des Mordschauplatzes?«
»Ich habe meine Freundin besucht.«
»Dóra?«
»Ja.«
»Entweder bist du ein bisschen blöde, oder du denkst, dass ich es bin«, sagte Sigurður Óli. »Darüber kannst du dir dann in der Untersuchungshaft Gedanken machen. Ich möchte dir nur mitteilen, dass du ab sofort zu den Verdächtigen gehörst, wir werden dich im Laufe des Tages abholen.«
Sigurður Óli öffnete eine Tür, die nach draußen führte.
»Mein Bruder hat sich den Wagen ausgeliehen«, sagte Sara leise.
»Was hast du gesagt?«
»Mein Bruder hatte den Wagen«, sagte das Mädchen etwas lauter. Langsam, aber sicher verschwand der aufsässige Ausdruck in ihrem Gesicht.
»Wer ist dein Bruder? Was macht er beruflich?«
»Er ist arbeitslos. Ich leihe ihm manchmal mein Auto. Er hat es an dem Abend gehabt. Ich weiß nicht, wo er war oder was er da gemacht hat.«
»Weshalb hast du gelogen?«
»Er bringt sich ständig in Schwierigkeiten. Als du mich nach dem Auto gefragt hast und danach, wo ich gewesen war, dachte ich sofort, dass er etwas ausgefressen haben könnte. Aber ich habe keine Lust, für ihn in den Knast zu gehen, das kommt nicht in Frage. Er hat das Auto gehabt.«
Sigurður Óli sah Sara an, die auf den Boden starrte. Er überlegte, ob das vielleicht wieder eine Lüge war.
»Weshalb sollte ich dir jetzt glauben?«
»Mir ist es egal, was du glaubst. Er war mit dem Auto unterwegs, mehr weiß ich nicht. Das ist nicht mein Problem. Du solltest mit ihm reden.«
»Was hat er dort gemacht? Was hat er dir gesagt?«
»Nichts. Wir haben nicht lange miteinander geredet. Er ist …«
Sara verstummte.
»Du hast ihm also dein Auto geliehen«, sagte Sigurður Óli.
Sara starrte jetzt nicht mehr auf den Boden, sie hob den Kopf und sah Sigurður Óli ins Gesicht.
»Nein … Das war
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