Abgründe
verabschiedeten sich auf dem Parkplatz vor dem Wohnblock. Sein Vater versicherte ihm, dass dies kein Abschied sei, sie würden eng in Verbindung bleiben.
»Vielleicht ist es so am besten, so wie die Dinge stehen«, sagte er. »Allerdings weiß ich nicht, was sich da eigentlich abspielt«, fügte er hinzu, und diese Worte prägten sich Sigurður Óli ein.
Er fragte seine Mutter nach den Gründen für die Scheidung, erhielt aber keine zufriedenstellende Antwort. »Zwischen uns war es schon lange zu Ende«, sagtesie und bat ihn, sie nicht weiter mit solchen Fragen zu behelligen.
Er erinnerte sich daran, dass sein Vater immer versucht hatte, alles für seine Frau zu tun. Zum Schluss war er nur noch so etwas wie ein Lakai gewesen. Ihr Verhalten ihm gegenüber war nicht selten entwürdigend, und wenn Sigurður Óli Zeuge von solchen Szenen war, wartete er immer darauf, dass sich sein Vater zur Wehr setzte, etwas machte, etwas sagte, wütend wurde, sie anschrie und ihr in aller Deutlichkeit klarmachte, wie unfair, anmaßend und gemein sie war.
Aber er sagte nie etwas, ließ sich nie auf einen Streit mit ihr ein, versuchte nie, seinen Willen mit einem Machtwort durchzusetzen. Deswegen ging alles nach ihrem Kopf. Sigurður Óli wusste, dass das Scheitern der Beziehung nur an seiner Mutter gelegen hatte, an der Art und Weise, wie sie mit seinem Vater umging, die von Egoismus und Kompromisslosigkeit gekennzeichnet war.
Im Lauf der Zeit veränderte sich aber seine Einstellung zu seinem Vater, und er begann, es eher ihm anzulasten, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Seine allzu große Gefügigkeit war das Problem gewesen, er war nicht imstande gewesen, eine Familie zusammenzuhalten. Sigurður Óli gewöhnte sich eine gleichgültige Haltung seinem Vater gegenüber an.
Er war fest entschlossen, niemals jemanden auf sich herumtrampeln zu lassen. Alle seine Überlegungen waren darauf gerichtet, nicht so zu werden wie sein Vater.
»Was hast du eigentlich damals an ihm gefunden, als ihr euch kennengelernt habt?«, fragte er seine Mutter und trank den Kaffee aus.
»An deinem Vater?«, fragte Gagga, die ihm Kaffee nachschenken wollte. Er lehnte ab und stand auf. Er wollte zuerst ins Krankenhaus und anschließend noch zur Hverfisgata.
»Was hast du in ihm gesehen?«
Gagga sah ihn lange nachdenklich an. »Ich dachte, er hätte mehr Mumm in den Knochen gehabt. Dein Vater war immer ein Weichei.«
»Er hat immer nur versucht, es dir recht zu machen«, sagte Sigurður Óli. »Das weiß ich noch ganz genau. Und ich kann mich auch gut daran erinnern, wie schäbig du ihn häufig behandelt hast.«
»Was ist los mit dir?«, fragte Gagga. »Wieso fragst du plötzlich danach? Ist es wegen dir und Bergþóra? Bereust du vielleicht etwas?«
»Vielleicht habe ich mich zu sehr auf deine Seite gestellt«, sagte Sigurður Óli. »Vielleicht hätte ich mich besser auf seine schlagen sollen.«
»Es ging nicht darum, eine Wahl zu treffen. Die Ehe war kaputt, es hatte nichts mit dir zu tun.«
»Nein«, sagte Sigurður Óli, »es ging mich nichts an, das hast du jedenfalls immer behauptet. Ist das fair?«
»Was soll ich dazu sagen? Weshalb zerbrichst du dir den Kopf darüber? Das ist alles längst vorbei.«
»Ja, genau«, sagte Sigurður Óli. »Ich muss wirklich los.«
»Ich mochte Bergþóra sehr gern.«
»Sie sagt aber etwas anderes.«
»Meinetwegen sagt sie das, aber es stimmt nicht.«
»Ich muss los.«
»Grüß deinen Vater von mir«, sagte Gagga und räumte die Tassen ab.
Sein Vater lag auf der urologischen Station des Krankenhauses an der Hringbraut. Er schlief, als Sigurður Óli bei ihm vorbeischaute. Er wollte ihn nicht wecken, setzte sich auf einen Stuhl und wartete. Sein Vater lag in einem Einbettzimmer unter dem weißen Oberbett und war umgeben von Stille.
Während Sigurður Óli darauf wartete, dass er aufwachte, dachte er wieder an Bergþóra und überlegte, ob er vielleicht zu wenig Kompromissbereitschaft gezeigt hatte und ob da noch etwas rückgängig zu machen war.
Vierundzwanzig
Die Fahndung nach Þórarinn hatte am Montagnachmittag noch nichts erbracht. Man hatte sich mit zahlreichen Leuten unterhalten, die ihn kannten oder mit ihm zu tun gehabt hatten, darunter Fahrerkollegen und feste Kunden. Zwar hatte niemand von ihm gehört oder wusste, wo er sich aufhalten könnte, doch es wurden diverse Vermutungen geäußert. Einigen ging man nach, andere waren zu absurd, um sie ernst zu nehmen. Ein aktuelles Foto von
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