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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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dir?«, fragte er.
    Bergþóra antwortete nicht.
    »Bergþóra?«
    »Entschuldige«, hörte er sie sagen, »mir ist der Hörer aus der Hand gefallen.«
    »Wer ist da bei dir?«
    »Wir sollten vielleicht später miteinander reden«, sagte Bergþóra. »Jetzt ist vielleicht gerade kein günstiger Augenblick.«
    »Bergþóra …?«
    »Wir reden später miteinander«, sagte sie. »Ich melde mich.«
    Das Gespräch wurde unterbrochen. Sigurður Óli starrte auf den Hörer. Aus irgendwelchen Gründen war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Bergþóra sich anderweitig umgetan haben könnte. Er selber war zwar auch offen für alles, aber dass Bergþóra ihm zuvorgekommen war, brachte ihn etwas aus dem Gleichgewicht.
    »Verdammte Scheiße«, hörte er sich selber wütend flüstern.
    Er hätte nicht anrufen sollen.
    Was wollte sie mit einem anderen?
    »Scheiße«, flüsterte er wieder und knallte den Hörer auf die Gabel.

Siebenundzwanzig
    Es wurde nicht für notwendig erachtet, Untersuchungshaft für Kristján zu beantragen, für den Handlanger – wenn man ihn überhaupt als solchen bezeichnen konnte – des Dealers und Schuldeneintreibers Þórarinn, der aller Wahrscheinlichkeit nach Sigurlína Þorgrímsdóttir überfallen und getötet hatte. Kristján war seinen Job beim Baumarkt schon wieder los und lag auf der faulen Haut. Sigurður Óli hatte ihn schnell gefunden, nämlich in der Kneipe, in der er vor ein paar Tagen nach ihm gefragt hatte. Kristján war guter Dinge, er winkte Sigurður Óli aus einer Ecke des Lokals so jovial zu, als seien sie dick befreundet.
    »Beim Baumarkt haben sie mir gesagt, du hättest aufgehört«, sagte Sigurður Óli und setzte sich zu ihm.
    Es war kurz nach Mittag. Kristján saß allein an einem Tisch vor einem halbleeren Bierkrug, neben dem eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug lagen. Er sah genauso aus wie bei ihrem letzten Zusammentreffen und erklärte, nichts von Þórarinn gehört zu haben, worüber er allerdings eher froh zu sein schien. Vielleicht hoffte er sogar darauf, dass die Polizei ihn so schnell wie möglich festnehmen und lebenslänglich einlochen würde.
    »Er ist kein Freund von mir, falls du das glauben solltest«, sagte Kristján.
    Zu dieser Tageszeit war er fast der einzige Kunde in der Kneipe und genoss das Dasein, denn er hatte ein paar wenige Arbeitstage bezahlt bekommen und war zufrieden mit Gott und der Welt. Zu oft hatte er schon erlebt, dass er völlig abgebrannt war und sogar gehungert hatte.
    »Nein, das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Sigurður Óli. »Er ist wahrscheinlich kein Typ, in dessen Gesellschaft man sich wohlfühlt. Ich habe mit seiner Frau gesprochen. Sie hat keine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte.«
    »Ihr wisst also überhaupt nicht, wo Toggi ist?«
    »Er hat sich in Luft aufgelöst. Die Frage ist bloß, wie lange er es in der Versenkung aushält, meist ist das Limit nach ein paar Tagen erreicht. Hast du eine Vorstellung, wo er sein könnte?«
    »Nicht die geringste. Jetzt relax doch mal und trink ein Bier mit mir. Zigarette?«
    Kristján schob ihm selbstgefällig die Schachtel hin, hier in der Kneipe hatte er sozusagen Heimvorteil, und durch das Bier fühlte er sich stark. Sigurður Óli traute seinen Ohren kaum und betrachtete diese armselige Gestalt schweigend. Wie tief konnte man sinken? Wenn es etwas gab, was er an seinem Beruf unerträglich fand, war es, solchen Gestalten wie Kristján gegenüber ein leutseliges Verhalten an den Tag legen zu müssen. Leute gut zu behandeln, die er im Grunde genommen verachtete, sich auf ihr Niveau zu begeben, sich in ihre Lage zu versetzen. Vielleicht sogar so tun zu müssen, als sei er einer von ihnen. Seinem Kollegen Erlendur fiel das leicht, er hatte Verständnis für solche Leute. Elínborg konnte bei ihren Begegnungen mitStraftätern notfalls auf weibliche Intuition zurückgreifen. Sigurður Óli war hingegen der Überzeugung, dass Welten zwischen ihm und solchen kriminellen Burschen lagen. Sie hatten nichts gemein und würden es nie haben. Es gab keine gemeinsame Ebene, auf der sich eine verkrachte Existenz und ein anständiger Bürger begegnen konnten. Sigurður Óli war der Ansicht, dass dieses Gesocks jegliches Anrecht darauf verwirkt hatte, die Klappe aufzureißen und sich wichtig zu machen oder überhaupt gesellschaftlich wahrgenommen zu werden. Hin und wieder – so wie jetzt – sah sich Sigurður Óli allerdings gezwungen, so zu tun, als würde er so etwas wie Verständnis dafür

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