Abgründe
verstand er nicht, weshalb sein Vater so genannt wurde. Er hatte immer geglaubt, sein Vater sei wie alle anderen Handwerker, und es war ihm peinlich, dass er einen so abwertenden Spitznamen hatte. Sein Vaterbild bekam einen Knacks, ohne dass Sigurður Óli sich dessen richtig bewusst war. Wirkte sein Vater auf andere lächerlich? War er ein gesellschaftlicher Außenseiter? War das der Grund dafür, dass sein Vater immer allein und nicht in einem Team mit anderen arbeitete, dass er kein Interesse hatte, für eine Firma zu arbeiten, nur wenige Freunde besaß und eher eigenbrötlerisch war? Selber behauptete er, ihm läge nichts an der Gesellschaft von anderen.
Sigurður Óli hatte tagsüber seinen Vater im Krankenhaus besucht und darauf gewartet, dass er nach der Operation aus der Narkose erwachte, und dabei an die Szene gedacht, als er von dem Spitznamen erfahren hatte. Erst sehr viel später verstand er, was damals geschehen war und konnte die Gefühle beschreiben, die ihm zu schaffen gemacht hatten. Er hatte sich auf einmal in der unangenehmen Situation befunden, Mitleid mit seinem Vater zu haben. Sich in ihn hineinzuversetzen, vielleicht sogar ihn in Schutz zu nehmen.
Sein Vater rührte sich im Bett und schlug die Augen auf. Man hatte Sigurður Óli bereits mitgeteilt, dass die Operation gut verlaufen war, die Prostatadrüse war entfernt worden, und es gab keine Anzeichen für Metastasen, der Krebs schien sich nur in diesem Organ befunden zu haben. Sein Vater würde schnell wieder auf die Beine kommen.
»Wie geht es dir?«, fragte Sigurður Óli, als er sah, dass sein Vater wach war.
»So einigermaßen«, antwortete er. »Man ist aber irgendwie benommen.«
»Du siehst gut aus«, sagte Sigurður Óli. »Du musst dir jetzt viel Ruhe gönnen.«
»Vielen Dank, dass du gekommen bist, Siggi«, sagte sein Vater. »Das wäre gar nicht nötig gewesen, du brauchst dich doch nicht um einen alten Kerl wie mich zu kümmern.«
»Ich habe über dich und Mama nachgedacht.«
»Ach, tatsächlich?«
»Wieso ihr euch zusammengetan habt, wo ihr doch so unterschiedlich seid.«
»Doch ja, das sind wir, verdammt unterschiedlich. Das stellte sich auch ziemlich bald heraus, aber etwas ausgemacht hat es uns erst später. Als sie zu arbeiten anfing, da hat sie sich auf einmal verändert. Ich meine, als sie Steuerberaterin wurde. Findest du es komisch, dass sie sich mit einem Klempner wie mir eingelassen hat?«
»Ich weiß nicht«, sagte Sigurður Óli, »aber eigentlich passt es nicht so richtig zu ihr. Wenn du später sagst, meinst du damit, als ich auf die Welt gekommen war?«
»Es hat nichts mit dir zu tun, mein lieber Siggi. Deine Mutter war schon immer eine Frau, der alles zuzutrauen ist.«
Sie schwiegen, und sein Vater schlief wieder ein. Sigurður Óli blieb noch eine Weile bei ihm sitzen, doch dann stand er auf und ging.
Nachdem er noch eine Weile Fernsehen geschaut hatte, stand Sigurður Óli auf und schaltete das Gerät aus. Er warf einen Blick auf die Uhr, wahrscheinlich war es reichlich spät für einen Anruf. Trotzdem hätte er gerne mit ihr gesprochen, daran hatte er schon den ganzen Tag gedacht. Er hob den Hörer ab und hielt ihn unschlüssig in der Hand, doch dann wählte er die Nummer. Beim dritten Klingeln ging sie ans Telefon.
»Ruf ich zu spät an?«, fragte er.
»Nein … Ist schon in Ordnung«, sagte Bergþóra. »Ich war noch nicht eingeschlafen. Stimmt was nicht? Weshalb rufst du so spät an?« Ihre Stimme klang besorgt, aber irgendwie gespannt, beinahe keuchend.
»Ich wollte einfach nur mal wieder mit dir sprechen und dir von meinem Vater erzählen, er liegt im Krankenhaus.«
»Ach?«
Er erzählte Bergþóra von der Krankheit seines Vaters und der glücklich überstandenen Operation, er würde in ein paar Tagen entlassen werden. Er habe ihn zweimal besucht und würde sich um ihn kümmern, wenn er nach Hause käme.
»Er will natürlich nicht, dass andere sich seinetwegen Umstände machen.«
»Du hast ja nie viel Kontakt zu ihm gehalten«, sagte Bergþóra, die ihren ehemaligen Schwiegervater nie richtig kennengelernt hatte.
»Nein«, sagte Sigurður Óli. »Es hat sich irgendwie so entwickelt, ich weiß auch nicht, wieso. Äh … Mir fiel ein, ob wir uns nicht noch einmal treffen können? Vielleicht zu Hause bei dir. Oder vielleicht unternehmen wir was Nettes zusammen.«
Bergþóra verstummte plötzlich. Sigurður Óli hörte ein Rascheln im Hintergrund und gedämpfte Stimmen.
»Ist jemand bei
Weitere Kostenlose Bücher