Abgrund: Roman (German Edition)
reine Hölle gehalten. Ich habe mir vorgenommen, die Zähne zusammenzubeißen, meine Zeit abzusitzen und dann wieder zu verschwinden. Aber so ist es gar nicht. Wissen Sie, was ich meine, Lenie?«
Ich weiß. Doch sie antwortet nicht.
»Das dachte ich mir«, sagt er, als hätte sie tatsächlich etwas gesagt. »Eigentlich ist es sogar … ganz schön hier. Selbst die Ungeheuer, wenn man sie erst einmal ein bisschen besser kennengelernt hat. Wir sind alle wunderschön.«
Er wirkt beinahe sanft.
Clarke durchwühlt ihre Erinnerung nach irgendetwas, das sie erwidern könnte. »Sie konnten das unmöglich vorhersagen«, sagt sie. »Zu viele Variablen spielen dabei eine Rolle. So etwas lässt sich nicht berechnen. Hier unten lässt sich gar nichts berechnen.«
Ein fremdes Geschöpf blickt auf sie herab und zuckt die Achseln. »Berechnen? Wahrscheinlich nicht. Aber vorhersehen …«
Ich habe keine Zeit für so etwas, sagt sich Clarke. Ich muss mich an die Arbeit machen.
» … das ist etwas ganz anderes«, sagt Acton.
Sie hätte ihn nie für einen Bücherwurm gehalten. Dennoch hat er sich schon wieder in die Bibliothek eingeklinkt. Streulicht von der Datenbrille fällt auf seine Wangen.
In letzter Zeit scheint er viel Zeit in der Bibliothek zu verbringen. Beinahe genauso viel wie draußen.
Clarke wirft im Vorbeigehen einen Blick auf den Flachbildschirm. Er ist dunkel.
»Chemie«, sagt Brander vom anderen Ende des Aufenthaltsraums.
Sie sieht zu ihm hinüber.
Brander weist mit dem Daumen auf Acton, der sie weder sehen noch hören kann. »Damit beschäftigt er sich. Seltsames Zeug. Furchtbar langweilig.«
Damit hat sich auch Ballard beschäftigt, kurz bevor sie … Clarkes Finger streichen über ein Headset am benachbarten Terminal.
»Oh, Sie begeben sich da auf gefährliches Gebiet«, stellt Brander fest. »Mr. Acton mag es nicht, wenn man ihm über die Schulter blickt.«
Dann wird Mr. Acton eine private Einstellung gewählt haben, und ich werde gar nicht erst dazu in der Lage sein. Sie nimmt Platz und setzt das Headset auf. Acton hat keine private Einstellung gewählt, und Clarke kann sich ohne Schwierigkeiten in seinen Kanal einklinken. Die Laser der Datenbrille ätzen Text und Formeln auf ihre Retina. Serotonin. Azetylcholin. Reduzierung von Neuropeptiden. Brander hat recht: Es ist tatsächlich langweilig.
Jemand berührt sie.
Sie reißt sich nicht das Headset vom Kopf. Sie nimmt es ruhig ab. Diesmal zuckt sie nicht einmal zusammen. Diese Genugtuung will sie ihm nicht verschaffen.
Acton hat sich auf seinem Stuhl zu ihr umgedreht, die Datenbrille baumelt von seinem Nacken herab. Seine Hand liegt auf ihrem Knie.
»Freut mich, dass wir ähnliche Interessen haben«, sagt er bedächtig. »Allerdings überrascht mich das nicht weiter. Zwischen uns besteht schließlich eine gewisse … Chemie …«
»Sie haben recht.« Sie erwidert seinen Blick, sicher hinter ihren Augenkappen verborgen. »Schade nur, dass ich auf Schwachköpfe allergisch reagiere.«
Er lächelt. »Natürlich könnte es mit uns nie klappen. Das Alter stimmt nicht.« Er steht auf und hängt die Datenbrille an ihren Haken zurück.
»Ich bin längst nicht alt genug, um Ihr Vater zu sein.«
Er geht durch den Aufenthaltsraum davon und steigt über die Leiter nach unten.
»Was für ein Arschloch«, stellt Brander fest.
»Er ist ein noch größerer Idiot als Fischer. Mich wundert, warum Sie sich mit ihm nicht ständig anlegen.«
Brander zuckt die Achseln. »Das Ganze hat eine andere Dynamik. Acton ist einfach nur ein Arschloch. Fischer dagegen war ein verdammter Perverser.«
Ganz zu schweigen davon, dass Fischer sich nie gewehrt hat . Doch diesen Gedanken behält sie für sich.
Konzentrische Kreise, die smaragdgrün leuchten. Beebe befindet sich im Mittelpunkt einer Zielscheibe. Hier und dort wird der Anblick von schwächeren Lichtklecksen verunziert: Spalten im Meeresboden und zerklüftete Gesteinsformationen, endlose schlammbedeckte Ebenen, die euklidischen Umrisse menschlicher Maschinen, alle auf dieselbe akustische Maßeinheit reduziert.
Dort draußen befindet sich noch etwas anderes, das teils euklidischen, teils darwinschen Ursprungs ist. Clarke zoomt näher heran. Das Gewebe des menschlichen Körpers ähnelt zu sehr dem Meerwasser, um ein Echo zu erzeugen, doch Knochen lassen sich sehr gut erkennen. Die Maschinen im Innern des Körpers sind sogar noch besser zu sehen, sie antworten auf das leiseste Signal des Echolots. Clarke stellt
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