Abgrund: Roman (German Edition)
durchschneidet die Tiefe. Sie lässt ihn durch das Wasser schweifen. Nichts.
»Haben die anderen ihn auch gesehen?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, Caraco hat ihn ein paarmal auf dem Echolot gesichtet.«
»Lass uns zurückgehen«, sagt Clarke.
»Nein. Bleib noch ein bisschen. Verbring die Nacht mit mir.«
Sie blickt in seine leeren Linsen. »Bitte, Karl. Komm mit mir. Schlaf mal wieder eine Zeitlang in der Station.«
»Er ist nicht gefährlich, Len.«
»Darum geht’s nicht.« Jedenfalls nicht nur .
»Worum dann?«
»Karl, hast du mal daran gedacht, dass du von diesem Sinnesrausch irgendwie abhängig werden könntest?«
»Komm schon, Len. Die Riftzone versetzt uns alle in einen Rauschzustand. Deshalb sind wir schließlich hier unten.«
»Sie kann uns in einen Rausch versetzen, weil wir nicht ganz richtig im Kopf sind. Das heißt aber nicht, dass wir den Effekt noch verstärken sollten.«
»Lenie …«
»Karl.« Sie legt ihm die Hände auf die Schultern. »Ich weiß nicht, was mit dir hier draußen passiert. Aber was immer es ist, es macht mir Angst.«
Er nickt. »Ich weiß.«
»Dann bitte, bitte mach es so wie ich. Versuch, eine Weile drinnen zu schlafen und nicht jede freie Minute am Grund des Ozeans zu verbringen, okay?«
»Lenie, ich mag mich nicht, wenn ich drinnen bin. Nicht einmal du magst mich in diesem Zustand.«
»Kann sein. Ich weiß nicht. Ich bin mir einfach nicht sicher … wie ich mit dir umgehen soll, wenn du so bist wie jetzt.«
»Wenn ich nicht ständig wütend bin? Wenn ich mich wie ein vernünftiger Mensch verhalte? Würden wir diese Unterhaltung im Innern der Station führen, würden wir uns inzwischen mit Gegenständen bewerfen.« Einen Moment lang schweigt er. Etwas ändert sich an seiner Haltung. »Oder vermisst du das etwa?«
»Nein. Natürlich nicht«, sagt sie, überrascht über den Gedanken.
»Na dann …«
»Bitte. Tu es mir zuliebe. Was kann es denn schon schaden?«
Er antwortet nicht. Doch sie hat den unbestimmten Verdacht, dass er durchaus etwas erwidern könnte.
Sie muss es ihm zugute halten. Sein Widerwille zeigt sich zwar in jeder Bewegung, doch er steigt sogar als Erster in die Luftschleuse. Als das Wasser aus der Schleuse abfließt, geht jedoch etwas mit ihm vor sich. Die Luft strömt in seinen Körper und verdrängt irgendetwas in seinem Innern. Sie kann nicht recht sagen, was es ist. Sie fragt sich, warum ihr das bisher noch nicht aufgefallen ist.
Als Belohnung nimmt sie ihn direkt mit in ihre Kabine. Er presst sie gegen das Schott und vögelt sie rücksichtslos. Animalische Geräusche werden von der Stationshülle zurückgeworfen. Als er kommt, fragt sie sich, ob der Lärm womöglich die anderen stört.
»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht«, sagt Acton, »warum es hier unten so verdammt schäbig aussieht?«
Es ist ein merkwürdiger Augenblick, so selten wie eine Konjunktion von Planeten. Die Tagesrhythmen sämtlicher Besatzungsmitglieder überschneiden sich für ein paar Stunden, und alle haben sich zur selben Zeit zum Essen eingefunden. Fast alle. Lubin ist nirgendwo zu sehen. Allerdings trägt er ohnehin nie viel zur Unterhaltung bei.
»Wie meinen Sie das?«, fragt Caraco.
»Was denken Sie wohl? Schauen Sie sich doch bloß mal um, verdammt noch mal!« Acton macht eine Armbewegung, die den gesamten Aufenthaltsraum umfasst. »Dieser Raum ist kaum hoch genug, um darin aufrecht stehen zu können. Überall, wo man hinschaut, hängen diese verfluchten Rohre und Kabel. Es ist, als würde man in einem Leitungsschrank wohnen.«
Brander runzelt die Stirn, den Mund voll rehydrierter Kartoffeln.
»Vielleicht waren sie beim Bau unter Zeitdruck«, gibt Nakata zu bedenken. »Die Station sollte so schnell wie möglich den Betrieb aufnehmen. Vielleicht haben sie es einfach nicht geschafft, alles so gemütlich zu machen, wie es möglich gewesen wäre.«
Acton schnaubt verächtlich. »Kommen Sie schon, Alice. Wie lange kann es dauern, einen Bauplan mit einer ordentlichen Deckenhöhe zu entwerfen?«
»Ich rieche eine Verschwörungstheorie«, warf Brander ein. »Also los, Karl. Warum hat es die Netzbehörde darauf angelegt, dass wir uns ständig den Kopf stoßen? Vielleicht wollten sie kleinere Menschen aus uns machen? Damit wir weniger essen?«
Lenie Clarke spürt Actons Anspannung. Es ist wie eine kleine Druckwelle, die von seinen erstarrenden Muskeln ausgeht, ein Spannungsimpuls, der wellenförmig durch die Luft wandert und auf ihre Taucherhaut
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