Abgrund: Roman (German Edition)
der Außenkamera an der Unterseite der Station. Das Bild flackert einen Moment lang und wird dann wieder klar. Auf dem Bildschirm ist ein muschelförmiger Lichtkreis auf einer flachen, schlammigen Ebene zu sehen, der von den scharfen Schatten der Verankerungskabel durchschnitten wird. Am Rand des Kreises ist eine schwarze menschliche Gestalt zu sehen, die mit dem Gesicht nach unten am Boden liegt, die Hände auf beiden Seiten gegen den Kopf gedrückt.
Clarke schaltet die akustische Verbindung ein. »Karl! Karl, hörst du mich?«
Er reagiert auf ihre Stimme. Sein Kopf dreht sich herum und blickt zu den Scheinwerfern hoch; seine Augenkappen werfen leere, weiße Lichtreflexe in die Kamera. Er zittert.
»Sein Stimmwandler«, sagt Nakata. Aus dem Lautsprecher dringen leise, monotone, mechanische Geräusche. »Er … stottert …«
Clarke ist bereits im Schleusenraum. Sie weiß, was Actons Stimmwandler sagt. Sie weiß es deshalb, weil sie dasselbe Wort immer wieder in ihrem Kopf hört.
Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.
Keine offensichtlichen motorischen Einschränkungen. Er schafft es allein, in die Station zurückzukehren, und versteift sich sogar, als Clarke versucht, ihm zu helfen. Ohne ein Wort zu sagen, legt er seine Ausrüstung ab und folgt ihr in die Krankenstation.
Nakata schließt diplomatisch die Luke hinter ihnen.
Jetzt sitzt er mit starrem Gesicht auf dem Untersuchungstisch. Clarke weiß, was zu tun ist: die Taucherhaut ausziehen, seine Augenkappen herausnehmen. Automatische Pupillenreaktion und Reflexbögen überprüfen. Eine Blutprobe nehmen und die üblichen Analysen durchführen: Blutgase, Azetylcholin, GABA, Milchsäure.
Sie setzt sich neben ihn. Sie will ihm nicht die Augenkappen herausnehmen. Sie will nicht sehen, was dahinter ist.
»Deine Inhibitoren«, sagt sie schließlich. »Wie weit hast du sie heruntergeregelt?«
»Zwanzig Prozent.«
»Tja.« Sie versucht es mit einem scherzhaften Ton. »Zumindest wissen wir jetzt, wo die Grenze liegt. Dreh sie einfach wieder auf die normale Einstellung hoch.«
Er schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf.
»Warum nicht?«
»Es ist zu spät. Ich habe einen Grenzwert überschritten. Ich glaube nicht … ich habe das Gefühl, dass es sich nicht mehr rückgängig machen lässt.«
»Verstehe.« Sie legt ihm zögerlich die Hand auf den Arm. Er reagiert nicht darauf. »Wie fühlst du dich?«
»Blind. Und taub.«
»Aber du bist es nicht wirklich.«
»Du hast gefragt, wie ich mich fühle«, sagt er mit immer noch ausdrucksloser Stimme.
»Hier.« Sie nimmt den NMR-Helm vom Haken. Acton lässt ihn sich über den Kopf stülpen. »Wenn mit dir irgendetwas nicht in Ordnung ist, sollte es …«
»Mit mir ist etwas nicht in Ordnung, Len.«
»Also gut.« Die Untersuchungsergebnisse tauchen auf der Diagnoseanzeige auf. Clarke verfügt über dieselben medizinischen Kenntnisse wie sie alle – Kenntnisse, die ihr im Traum von Maschinen eingegeben wurden. Dennoch kann sie mit den unverarbeiteten Daten nichts anfangen. Es dauert beinahe eine Minute, bis das Gerät eine Zusammenfassung ausspuckt.
»Die Kalziumwerte in deinen Synapsen sind zu niedrig.« Sie achtet sorgfältig darauf, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Durchaus nachvollziehbar. Wenn deine Nervenzellen zu schnell feuern, muss zwangsläufig irgendwann etwas knapp werden.«
Er blickt auf den Bildschirm, ohne etwas zu sagen.
»Karl, das ist kein Problem.« Sie beugt sich zu seinem Ohr hinüber, eine Hand auf seiner Schulter. »Das gibt sich von selbst wieder. Regel einfach deine Inhibitoren wieder auf den Normalwert hoch. Dann sinkt der Bedarf, der Vorrat reicht wieder, und alles ist wie vorher.«
Er schüttelt erneut den Kopf. »Das würde nicht funktionieren.«
»Karl, schau dir die Anzeige an. Du kannst wieder gesund werden.«
»Fass mich bitte nicht an«, sagt er, ohne sich zu rühren.
Kritische Masse
Clarke erhascht einen Blick auf seine Faust, bevor sie ihr Auge trifft. Sie taumelt rückwärts gegen das Schott und spürt, wie sie mit dem Hinterkopf gegen irgendeine vorstehende Niete oder ein Rohrende stößt. Die Welt versinkt in einer Explosion aus Lichtblitzen.
Er hat die Beherrschung verloren, denkt sie benommen. Ich habe gewonnen . Ihre Knie geben nach; sie gleitet an der Wand hinab und landet mit einem dumpfen Aufprall auf dem Hosenboden. Sie betrachtet es als eine Sache des Stolzes, dass sie dabei keinen Laut von sich gibt.
Ich frage mich, was ich getan habe, um ihn so
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