About Ruby
meine, als wir im College waren, hat sie oft von dir erzählt.«
»Ehrlich?«
»Ja. Quasi ununterbrochen«, erwiderte Denise mit Nachdruck. »Sie hat wirklich –«
»Denise!«, brüllte jemand in genau diesem Augenblick. Sie drehte sich um, spähte über die Schulter des Mannes, der unmittelbar neben uns stand. »Nicht vergessen, du musst mir unbedingt noch diese Nummer geben!«
»Ja, klar«, rief sie zurück. Lächelte mich entschuldigend an. »Einen Moment, bin gleich wieder da . . .«
Ich nickte. Sie zwängte sich durch die Umstehenden hindurch. Was sie wohl gerade hatte sagen wollen? Mit der Frage im Kopf ließ ich meinen Blick durch die Gegend wandern, bis ich Cora entdeckte. Sie stand mit Charlotte vor der Küchentür. Lächelte. Wirkte viel glücklicher als vorher. Irgendwann im Lauf des Abends hatte sie ihre Haare zusammengebunden, wodurch sie noch jünger wirkte als ohnehin schon. Sie trug einen flauschigen Pullover und trank ein Glas Wein. Ich hatte wie selbstverständlich angenommen, dass die ganzen Leute Jamies wegen hier waren; aber meine Schwester konnte sich im Lauf der Jahre, die wir uns nicht gesehen hatten, doch auch verändert haben, oder etwa nicht?
Sie lebt jetzt ihr eigenes Leben
, hatte meine Mutter immer wieder zu mir gesagt. Und ihr Leben war das hier. Wie es sich wohl anfühlte, wenn man tatsächlich noch einmalvon vorn anfing? Sein bisheriges Leben und alles, was dazugehörte, vergaß? Hinter sich ließ? Vielleicht war es sogar ziemlich einfach gewesen.
Einfach. Plötzlich sah ich mich selbst vor mir, wie ich nach einer langen Spätschicht bei
Commercial Couriers
in das dunkle gelbe Haus zurückkehrte. Wie oft hatte ich in den vergangenen paar Tagen daran – an mein altes Zuhause, meine Schule oder sonst irgendetwas von früher – gedacht? Nicht so viel, wie es angemessen gewesen wäre. Die ganze Zeit über war ich wütend auf Cora gewesen, weil sie mich vergessen, alles zwischen uns ausradiert hatte. Und jetzt tat ich exakt dasselbe. Wo war meine Mutter? Wenn einem die Flucht erst einmal gelungen war – war es dann wirklich so einfach zu vergessen? Wurde einem wirklich alles egal?
Plötzlich fühlte ich mich sehr erschöpft. Überwältigt. Alles, was in der vergangenen Woche geschehen war, schlug über mir zusammen. Alles auf einmal. Ich entfernte mich vom Partygewusel, kehrte ins Haus zurück. Lief die Treppe hoch. Freute mich regelrecht darauf, dass mein Zimmer vier Wände hatte und damit begrenzt war. Ein geschützter Raum. Selbst wenn es sich dabei genauso um ein Provisorium handelte wie bei allem anderen auch.
Ich brauchte Schlaf. Nur schlafen. Das redete ich mir jedenfalls ein. Schleuderte die Schuhe von mir, ließ mich aufs Bett fallen. Schloss die Augen, versuchte, das Gesinge auszublenden. Strengte mich mächtig an, mich in die Dunkelheit gleiten zu lassen und bis zum nächsten Morgen dortzubleiben.
Als ich wieder aufwachte, wusste ich im ersten Moment nicht genau, wie lange ich geschlafen hatte, ob Stunden oder nur ein paar Minuten. Mein Mund war trocken undmein Arm, auf dem ich gelegen hatte, ganz steif und verkrampft. Ich drehte mich auf die andere Seite, streckte mich. Und wünschte mir nichts sehnlicher, als wieder das zu träumen, was ich gerade geträumt hatte. Ohne mich daran erinnern zu können. Ich wusste bloß noch, dass es gut gewesen war, so wie unwirkliche Dinge gut sein können, verheißungsvoll, auch wenn sie weit entfernt sind. Ich schloss die Augen, wollte mich dazu zwingen, wieder in dem Traum zu versinken, da hörte ich von draußen Gelächter und Applaus. Die Party war also noch nicht vorbei.
Ich trat auf den Balkon vor meinem Zimmer. Geblieben war ein harter Kern von etwa zwanzig Personen. Der Banjospieler war verschwunden; nur Jamie zupfte noch auf seiner Gitarre herum. Die Leute, die sich um ihn versammelt hatten, schwatzten angeregt miteinander.
»Ist schon ziemlich spät«, sagte Charlotte, die mittlerweile einen Pullover über ihr Kleid gezogen hatte. Sie gähnte, wobei sie sich die Hand vor den Mund hielt. »Es gibt hier Leute, die müssen morgen früh aufstehen.«
»Am Sonntag?«, fragte Denise, die neben ihr saß. »Wer schläft sonntags denn nicht aus?«
»Noch
ein
Lied«, meinte Jamie. Schaute sich suchend um. Sein Blick blieb an einem Punkt haften, den ich von meiner Position aus nicht sehen konnte. »Was meinst du?«, fragte er »Ein letztes Lied?«
»Ja«, rief Denise begeistert. »Noch eins.«
Jamie lächelte und
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