About Ruby
begann zu spielen. Es war kalt draußen, zumindest kam es mir so vor. Ich drehte mich um, wollte wieder hineingehen, merkte, dass ich auch gleich gähnen würde. Wollte zurück in mein Bett. Doch gleichzeitig wurde mir klar, dass mir das, was Jamie spielte, irgendwie bekannt vorkam. Als würde etwas an einem Teil von mir ziehen,schwach, aber hartnäckig, eine Melodie, von der ich geglaubt hatte, sie gehörte mir ganz allein.
»›I am an old woman, named after my mother . . .«
Eine kraftvolle, klare Stimme, und auch sie war mir vertraut. Aber auf eine andere Weise. Distanzierter. Sie ähnelte der Stimme, die ich kannte, und war dennoch anders – angenehmer, nicht so hart oder brüchig.
»My old man is another child that’s grown old . . .«
Cora war es, die da sang. Cora, mit einer wunderschönen, reinen Stimme. Sie sang die Melodie, die wir beide so oft gehört hatten. Sang das Lied, welches mich mehr als alle anderen an meine Mutter erinnerte. Mir fiel ein, wie seltsam ich mich ein paar Stunden zuvor gefühlt hatte, als ich darüber nachdachte, dass wir beide anscheinend alles vergessen hatten. Aber was jetzt geschah, machte mir ebenfalls Angst: mich so unvermittelt wieder verbunden zu fühlen. Ein ganzer Strom von Erinnerungen – wir zwei in unseren Nachthemden, wie sie in unserem dunklen Schlafzimmer die Hand nach mir ausstreckte, tröstend, beschützend, verlässlich – stürzte plötzlich auf mich zu. Viel zu mächtig und schnell, als dass man ihn hätte aufhalten können.
Ich spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte, wie mein Hals wie wund wurde, bebte. Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Doch während ich weinte, wusste ich nicht, warum: wegen Cora, meiner Mutter oder vielleicht auch nur meinetwegen.
Kapitel sechs
Wissenschaftlich hätte ich es nicht nachweisen können. Dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass es auf dem ganzen Planeten keinen nervigeren Menschen gab als Gervais Miller.
Zunächst einmal lag es an seiner Stimme. Garantiert. Näselnd, ton- und ausdruckslos sonderte er ungefragt vom Rücksitz aus seine überflüssigen Kommentare ab. »Dein Haar ist hinten ganz verfilzt«, sagte er beispielsweise, als ich einmal nicht genügend Zeit zum Föhnen gehabt hatte. Oder wenn ich mir in letzter Sekunde ein T-Shirt direkt aus der Waschküche geholt hatte, um es anzuziehen: »Du stinkst wie ein Bettlaken frisch aus dem Trockner.« Wenn ich versuchte, ihn zu ignorieren, indem ich so tat, als würde ich lernen oder Hausaufgaben machen, provozierte ich damit lediglich eine ganze Reihe weiterer, unaufhörlicher Bemerkungen über meine schulischen Leistungen. Beziehungsweise darüber, dass man die wohl glatt vergessen konnte. »Grundlagen der Differenzialrechnung?! Wieso, bist du blöd oder was?« Oder: »Was sehe ich denn da unten auf dem Test? Eine Drei?« Und so weiter und so fort.
Ich hätte ihm am liebsten ordentlich eine verpasst. Jeden Tag. Doch das konnte ich natürlich nicht, aus zwei Gründen. Erstens war er noch ein Kind. Zweitens hätte ich garnicht gewusst, wohin ich hätte zielen sollen, um wirkungsvoll zu treffen, denn die ganzen dämlichen Klammern und Vorrichtungen um seinen Kopf wirkten wie eine Art Panzer, durch den sowieso kein Durchkommen gewesen wäre. (Wahrscheinlich hätte mich die Tatsache, dass ich über den Einsatz körperlicher Gewalt überhaupt nachdachte, ernsthaft beunruhigen sollen, was meinen Seelenzustand betraf. Dem war aber nicht so. Sorry.)
Wenn mir alles zu viel wurde, wandte ich mich daher »nur« zu ihm um und funkelte ihn so böse an, wie ich konnte. Meistens half das auch. Für den Rest der Fahrt hielt er dann den Mund. Wenn ich Glück hatte, sogar noch am nächsten Tag. Doch irgendwann war er wieder genauso unverschämt und frech wie vorher. Ja, in der Regel wurde es sogar noch schlimmer.
In lichten, vernünftigen Momenten bemühte ich mich, Mitleid mit Gervais zu empfinden. Ein solcher Wunderknabe zu sein war bestimmt nicht einfach. Hochbegabt, aber automatisch und überall der Jüngste. Wenn er mir auf dem Flur über den Weg lief, war er eigentlich immer allein. Er trug seinen Rucksack in der Regel auf beiden Schultern und schob beim Gehen den Kopf vor, als nähme er Anlauf, um den Nächstbesten durch einen heftigen Stoß vor die Brust umzurennen.
Er war, wie gesagt, noch ein Kind und entsprechend unreif, was bedeutete, dass er Sachen wie Rülpser und Furze einfach zum Brüllen komisch fand, vor allem, wenn es sich um
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