Abraham Lincoln - Vampirjäger
dass ich allein essen konnte, und ließ Bücher auf meinem Nachttisch zurück, damit ich auch in seiner Abwesenheit lesen konnte. Je tiefer ich in seine Gedankenwelt eintauchte, desto eher zog ich in Betracht, dass er keine mörderischen Absichten gegen mich hegte. Wir sprachen über Bücher. Über die bedeutenden Städte der Welt. Über Jack Barts. Wir sprachen sogar über meine Mutter. Aber meist sprachen wir über Vampire. Zu diesem Thema hatte ich mehr Fragen, als mir Worte dafür zur Verfügung standen. Ich wollte einfach alles über sie wissen. Vier lange Jahre hatte ich im Dunkeln getappt – war auf Mutmaßungen angewiesen gewesen und hatte lediglich hoffen können, dass das Schicksal mich einem Vampir von Angesicht zu Angesicht begegnen ließe. Hier war sie nun endlich, die Gelegenheit, alles in Erfahrung zu bringen: Wie sie allein von Blut leben konnten? Ob sie eine Seele hatten? Woher sie überhaupt kamen?
Unglücklicherweise verfügte Henry nicht über die Antworten auf diese Fragen. Wie die meisten Vampire war er zwar lange Zeit damit beschäftigt gewesen, seine »Abstammung« zu ergründen, hatte versucht, den »ersten Vampir« ausfindig zu machen, in der Hoffnung, dass diese Entdeckung ihn zu einer tieferen Wahrheit führen würde, vielleicht sogar zu einer Heilungsmöglichkeit. Und wie alle vor ihm war auch er daran gescheitert. Selbst den gewieftesten Vampiren gelang es bestenfalls, zwei oder drei Generationen ihrer Abstammung nachzuverfolgen. »Dies«, erklärte Henry, »ist in unserer einzelgängerischen Natur begründet.«
Fürwahr, Vampire pflegen kaum soziale Kontakte, und das so gut wie nie mit ihresgleichen. Die Schwierigkeit, an Blut zu kommen, führt zu einem scharfen Konkurrenzkampf, und auch ihr nomadenhafter Lebensstil erschwert langfristige Bindungen. In seltenen Fällen jagen Vampire zwar in Paaren oder Gruppen, aber diese Allianzen werden meist aus Bedrängnis geschmiedet und sind fast immer nur von kurzer Dauer.
»Was unsere Abstammung betrifft«, sagte Henry, »so fürchte ich, werde ich ewig im Dunkeln tappen. Manche von uns glauben, dass unsere Existenz auf einen bösen Geist oder Dämon zurückzuführen sei, der von einer armen Seele zur anderen wandert. Ein Fluch, der sich über das Blut verbreitet. Andere glauben, dass der Teufel selbst unser Stammvater sei. Und viele sind, so wie ich, der Überzeugung, dass es niemals einen ›Fluch‹ gab – sondern dass Vampire und Menschen vielmehr zwei verschiedenen Gattungen angehören. Zwei Arten, die schon nebeneinander existieren, seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Eine der beiden Rassen ist von jeher mit besseren Fähigkeiten ausgestattet, die andere schwächer und der Vergänglichkeit unterworfen, dafür aber der anderen zahlenmäßig weit überlegen. Die einzige Gewissheit ist wohl, dass wir in diesem Punkt nie absolute Gewissheit haben werden.«
Was allerdings die Erfahrung betraf, was es hieß, ein Vampir zu sein, war Henry unendlich sachkundig. Er hatte die Gabe, seine Lebensumstände auf eine Art und Weise zu erklären, dass ich sie auch in diesem jungen Alter begreifen konnte. Er verfügte über das Talent, dem Begriff der Unsterblichkeit ein menschliches Antlitz zu verleihen.
»Menschen unterliegen den Gesetzen der Zeit«, sagte er. »Folglich hat ihr Leben eine bestimmte Dringlichkeit. Dies treibt sie an. Bringt sie dazu, sich für die wesentlichen Dinge im Leben zu entscheiden, lässt sie stärker an dem festhalten, was ihnen lieb ist. Ihr Leben wird bestimmt von verschiedenen Phasen, bestimmten Übergangsritualen und den Konsequenzen ihres Handelns. Und schließlich vom Tod. Aber was ist ein Leben ohne diese Dringlichkeit? Was treibt einen dann an? Was bedeutet einem dann die Liebe? Die ersten hundert Jahre sind unheimlich aufregend, gewiss. Die Welt besteht aus uneingeschränktem Genuss. Wir erlangen Meisterschaft in der Kunst des Blutsaugens, lernen, wie wir am besten unsere Netze auswerfen und unseren Fang genießen. Wir bereisen die ganze Welt, betrachten die im Mondlicht glänzenden Wunder der Zivilisation, häufen kleine Vermögen an, indem wir den Besitz unserer zahllosen Opfer stehlen. Wir folgen jedem nur erdenklichen fleischlichen Verlangen … ach, es ist fürwahr alles ein großes Vergnügen. Doch nach einem Jahrhundert sind wir der Eroberungen langsam überdrüssig, unseren Körpern fehlt es an nichts – aber unser Geist darbt. Bis dahin haben die meisten von uns eine Resistenz gegen
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